Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    23.06.2009

    Jugendliche Amokläufer

    Experten und Computerspieler diskutierten in Buchholz


    Am Anfang der Veranstaltung „Jugendliche Amokläufer – Ursachen und Folgen“ in Buchholz am vergangenen Montag stand der Antrag der niedersächsischen SPD auf ihrem Landesparteirat, der forderte, politische Konsequenzen aus dem brutalen Amoklauf von Winnenden zu ziehen. Am Ende, nach einer dreistündigen Diskussion mit Medien- und Erziehungsfachleuten sowie mit professionellen E-Sportlern, stand die Erkenntnis, dass der Antrag besser anders gestellt werden sollte. Denn die von Kristina Stuntebeck moderierte Diskussion zeigte, dass die Ursachen für Amokläufe tief in gesellschaftliche Strukturen zu suchen sind und dass strengere Regeln bei Medieninhalten oder beim Waffenrecht zu kurz greifen.

    Die SPD-Bundestagsabgeordnete Monika Griefahn, Gastgeberin vor Ort und Medienpolitikerin, bedauerte, dass auch nach dem jüngsten Amoklauf von Winnenden eine anfänglich überlegte politische Debatte über gesellschaftliche Ursachen wieder in Forderungen nach schärferen Regeln mündete. „Wir haben jetzt das Waffenrecht verschärft, weil es Forderungen waren, die an uns herangetragen worden sind, beispielsweise durch den offenen Brief der Eltern von Winnenden. Ich persönlich befürchte, dass das weitere Amokläufe nicht verhindern kann.“ Genau wie der SPD-Landesvorsitzende Garrelt Duin in seiner Einführungsrede sahen auch die Experten auf dem Podium und die Zuschauer zuallererst in einer Förderung der Familie das geeignetere Mittel. Angeprangert wurde von vielen Seiten das deutsche Schulsystem. Besonders deutlich wurde Erziehungswissenschaftler und Familientherapeut Wolfgang Bergmann: „Die moderne Schulpolitik ist ein einziger Skandal.“

    Auch die beiden E-Sportler Dennis und Daniel Schellhase – beide mehrfache Weltmeister und professionelle Computerspieler – sehen in der Schule Ursachen für Amokläufe. Überhöhter Leistungsdruck und Mangel im Sozialen seien Teil des Problems. „Gewaltbereite Jugendliche und Amokläufer werden oft in einen Topf geworfen, sind aber zwei völlig verschiedene Dinge“, sagte Dennis Schellhase. „Amokläufer sind in der Regel nicht auffällig und gewaltbereit, sondern werden gemobbt.“

    Die beiden 25-Jährigen Zwillingsbrüder aus Gelsenkirchen spielen seit ihrem siebten Lebensjahr Computerspiele. Inzwischen gehören sie weltweit zu den bekanntesten E-Sportlern des Fußballspiels FIFA. Beide erklärten, dass der Spielbetrieb aufgebaut sei wie eine Bundesliga. Es gebe Tausende Zuschauer vor Ort bei den Turnieren und etliche weitere bei den Internetübertragungen. Es gebe für sie tägliches Training, feste Spielzeiten und Preisgelder. Und, wie sie später noch erzählten, unterscheide sich der Karriereverlauf kaum von dem der Sportler in anderen Sportarten. Mit 25 seien die Reaktionen schon nicht mehr so schnell wie mit 19 Jahren, es gebe ein Leben nach der Karriere als E-Sportler. Darauf bereiten sich die Zwillinge derzeit mit einem Studium der Wirtschaftsinformatik vor. Die Preisgelder aus ihrem Sport reichen nicht nur, um das Studium zu finanzieren, sondern auch, um - so der Plan – sich danach im E-Business selbständig zu machen. Süchtig, so die beiden, mache das nicht. Sie hätten auch immer viele andere Hobbys und Freunde sowie einen großen Familienkreis gehabt. So ist ihnen wichtig, möglichst oft auch ganz herkömmlich Fußball zu spielen.

    Während bei den beiden Profis die Rahmenbedingungen in Familie und Umfeld offensichtlich gut waren, erklärte Familientherapeut Bergmann, unter welchen Voraussetzungen sich Amokläufer-Persönlichkeiten entwickeln können. Eine Mischung aus überhöhtem Leistungsdruck durch ehrgeizige Eltern, das aussiebende Schulsystem, die Abstraktheit der heutigen Welt und einem Mangel an Liebe mache Kinder zu narzisstischen Persönlichkeiten und bereite damit den Nährboden für Gefährdungen. „Die Narzissmus-Problematik findet sich in allen Grundformen moderner Verhaltensauffälligkeiten – egal ob Magersucht oder Amoklauf“, führte er aus. Durch digitale Medien und den heutigen Strukturen von Familie und Schule – zum Beispiel mit zu wenig Tanz- und Gesangselementen – verlören Kinder die Möglichkeiten, sich selbst und ihre Körperlichkeit zu erleben. „Wir enthalten Ihnen das Abenteuer vor“, bemängelte er - und meinte, die Möglichkeiten ihren Körper, Verletzlichkeit und soziale Muster kennenzulernen. „Kinder sind unaufhörlich auf der Suche nach Bindungen in der Erwachsenenwelt und finden sie nicht“, beschrieb er das Problem. Daraus entwickele sich Narzissmus, Selbstverliebtheit, die in Computerspielen befriedigt werden könne. „Dort ist eine Landschaft mit einem Mausklick erschaffen und wieder zerstört. Die Kinder inszenieren sich als Gott.“

    Er forderte, alles zu tun, um Kindern ihre Körperlichkeit, Sinnhaftigkeit, das Gefühl für Zeit und Raum zu geben. Das sei die entscheidende Voraussetzung für eine gesunde Persönlichkeitsbildung. Liebe, gepaart mit Respekt und klaren Positionen, die sich in Blicken, Sprache und Empfindungen ausdrückten, seien das beste Mittel gegen Amokläufe. Monika Griefahn pflichtete ihm bei: „Eltern, die alle Sinnerwartungen in ihre Kinder projizieren, lassen eine Last entstehen, die das Kind nicht tragen kann.“

    Auch Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen sieht sich mit dem Problem fehlgeleiteter Jugendlicher konfrontiert. Er ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen Hannover. Er konstatierte, dass in den Familien viele Ursachen für Straftaten zu suchen seien, er in seiner Funktion aber nicht die Möglichkeiten habe, an die Wurzeln zu gehen. Für ihn sei klar: „Medien allein sind weder Auslöser noch Ursache von Straftaten“.

    Letztlich nahmen insbesondere die politischen Vertreter den Auftrag mit nach Hause, für bessere Rahmenbedingungen in Familie, Schule und Gesellschaft zu streiten. Nach Monika Griefahn sei das für die SPD eine Herzensangelegenheit: Nicht zuletzt die im Wahlprogramm verankerten Positionen zur Schulpolitik und Familienpolitik gingen genau in diese Richtung. „Bei uns in Niedersachsen beginnt der Konflikt mit der Landesregierung leider schon beim Thema Gesamt- und Ganztagsschule“, so die örtliche Direktkandidatin, „Aber wenn wir es nicht schaffen, behütete Orte für Kinder und Jugendliche zur Verfügung zu stellen, wo sie auch gefördert werden, Musik- und Sportangebote bekommen, dann brauchen wir uns nicht wundern, wenn die Zahl der Computersüchtigen immer weiter steigt.“ Zusammen mit Garrelt Duin machte sie klar, dass die SPD deshalb für ganzheitliche und kostenlose Betreuung und Bildung für jedes Kind vom ersten Geburtstag bis zum Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums eintrete.

    Den Einführungsvortrag hielt der renommierte Erziehungswissenschaftler und Familientherapeut Wolfgang Bergmann. Auf dem Podium saßen Bernd-Rüdeger Sonnen, Dennis und Daniel Schellhase, Kristina Stuntebeck, Monika Griefahn, Garrelt Duin und Wolfgang Bergmann (v.r.n.l.).