Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    22.05.2008

    „Jugendkriminalität: Strafe oder Prävention?“

    Einführung zum Thema bei Podiumsdiskussion in der Grundschule Ashausen


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    immer wieder wird das Thema Jugendkriminalität populistisch zu Wahlkampfzwecken missbraucht. Davon konnten wir uns ja alle zu Beginn dieses Jahres im hessischen Wahlkampf überzeugen. Noch heute läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich an die Forderungen des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch denke, ausländische Gewalttäter auszuweisen und das Jugendstrafrecht zu verschärfen.

    Für mich sieht verantwortungsvolle Politik anders aus. Populistische Parolen, wie sie im hessischen Wahlkampf auf der Tagesordnung standen, helfen uns nicht weiter. Ich denke, dass wir uns einer ehrlichen und sachlichen Debatte stellen müssen. Was sind die Ursachen für Jugendkriminalität? Und wie können wir sie am effektivsten bekämpfen? Das sind die Fragen, auf die wir dringend Antworten finden müssen.

    Für mich ist klar: Jugendkriminalität muss genauso hart bekämpft werden wie deren Ursachen – möglichst bevor es überhaupt zu kriminellen Übergriffen kommt. Die bereits jetzt bestehenden Möglichkeiten, kriminelle Taten zu bestrafen, reichen aus. Sie müssen aber konsequent von den Gerichten genutzt werden.

    Für mich als Sozialdemokratin gilt aber auch: Jugendgewalt ist letztlich auch ein Ergebnis von sozialer Ausgrenzung und fehlenden Bildungs- und Aufstiegschancen. Wer zulässt, dass jedes Jahr tausende Jugendliche ohne Schulabschluss oder Ausbildungsplatz bleiben, ist mit verantwortlich für den Nährboden, auf dem Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft wachsen.

    Im vergangenen Jahr haben etwa 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Schule ohne Abschluss verlassen. Das waren mehr als 70.000 Jugendliche – und wenn sie mich fragen, waren das 70.000 Jugendliche zu viel!

    Die niedersächsische Landesregierung hat sich im landesweiten Vergleich der Schulabbrecherquote übrigens nicht mit Ruhm bekleckert: Das bestätigt die Studie „Bildungsmonitor 2007“ von der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“: In kaum einen anderen Bundesland sind die Bildungschancen so abhängig von der sozialen Herkunft wie in Niedersachsen. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es besonders schwer: 25 Prozent der ausländischen Jugendlichen in Niedersachsen sind ohne Schulabschluss. Das ist im bundesweiten Vergleich der zweitschlechteste Wert.

    Wer solche Entwicklungen zulässt, der muss sich nicht wundern, dass Jugendliche auf dumme Gedanken kommen. Viele junge Menschen befinden sich in einer beruflichen Sackgasse, aus der sie nur schwer herauskommen. Sie haben den Anschluss in der Schule verloren und machen Gewalt zum Ventil ihrer Perspektivlosigkeit.

    Damit es erst gar nicht zu einem Schulabbruch bei Jugendlichen kommt, haben wir im Deutschen Bundestag im vergangenen Jahr das Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ ins Leben gerufen. Mit dem Programm geben wir Jugendlichen durch intensive und individuelle Betreuung die Möglichkeit, wieder zur Schule zu gehen und doch noch einen Abschluss zu schaffen.

    Besonders gut an dem Programm finde ich, dass sich so genannte Fall-Manager als feste Begleiter vor Ort um die Jugendlichen kümmern. Mittlerweile gibt es an mehr als 70 Standorten in Deutschland solche Fall-Manager. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Denn so werden die die Jugendlichen wieder in das Schulsystem integriert und die Hauptursachen von Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und letztlich auch Gewalt wirksam bekämpft.

    Was ich an der Diskussion um Jugendgewalt sehr bedauerlich finde, ist, dass nichtdeutsche Jugendliche unter Generalverdacht gestellt werden, gewalttätig zu sein. Das ist nicht nur falsch, sondern auch sehr gefährlich. Denn eine Tatsache wird dabei völlig ignoriert: In den letzten Jahren ist die Zahl rechtsradikaler Gewalttaten so stark angestiegen wie nie zuvor. Allein 2007 waren es mehr als 18.000 rechte Delikte, die bei der Polizei registriert wurden.

    Und wer denkt, dass Rechtsradikalismus ein Problem der neuen Bundesländer sei, der konnte sich bereits Anfang des Jahres vom Gegenteil überzeugen. Ich erinnere nur an den Aufmarsch der NPD in Meckelfeld im Januar 2008. Die NPD hat versucht, einen brutalen Fall von Gewalt unter Jugendlichen, der sich in Meckelfeld in der Silvesternacht zugetragen hat, auszunutzen. Das ist beschämend! Den Rechtsextremen geht es nicht um Opferschutz und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, sondern darum, Ausländerfeindlichkeit und Rassenhass zu schüren.

    Der Anstieg der rechtsextremen Kriminalität von Jugendlichen ist ein bundesweites Problem. Im Januar dieses Jahres belegte Niedersachsen bei rechtsextremen Gewalttaten einen traurigen ersten Platz im Ländervergleich. In keinem anderen Bundesland gab es zum Jahresbeginn so viele ausländerfeindliche Straftaten wie in Niedersachsen. Und auch in Schleswig-Holstein und Hamburg sind 2007 rechtsextreme Delikte um ein Drittel gestiegen.

    Mir macht diese wachsende Gewaltbereitschaft bei rechtsradikalen Jugendlichen große Sorgen. Ich halte es deshalb für dringend notwendig, dass wir noch stärker als bisher gegen menschenverachtende und rassistischen Kräften angehen. Für uns von der SPD-Bundestagsfraktion ist und bleibt der Kampf gegen Rechts eine zentrale Aufgabe. Projekte gegen Rechtsextremismus und Gewalt dürfen wir nicht im Stich lassen!

    Ich freue mich, dass für dieses Jahr die Bundesregierung wieder knapp 20 Millionen Euro im Rahmen des Programms „Gemeinsam für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen Rechtextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ zur Verfügung stellt.
    Außerdem konnten wir erreichen, dass für das Programm „Förderung von Beratungsnetzwerken – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ 5 Millionen Euro bewilligt werden. Ich finde dieses Programm wirklich sehr gut. Denn damit werden Modellprojekte und Initiativen vor Ort ganz konkret unterstützt.
    Das alles reicht noch nicht aus, aber ich denke, dass wir auf dem richtigen Weg sind, um rechtsradikalen Gewalttätern langfristig die Plattform zu entziehen.

    Ich möchte Sie abschließend noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen: Der Einfluss von Medien auf Jugendliche. Sie erinnern sich sicher an den tragischen Amoklauf in Emsdetten im November 2006. Seitdem sind Computerspiele und deren Auswirkungen auf die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in aller Munde.

    Immer wieder sind sehr unsachliche und populistisch geführte Debatten um so genannte „Killerspiele“, die gerade mal 5 Prozent der Computerspiele auf dem deutschen Markt ausmachen, geführt worden. Natürlich muss es einen effektiven Jugendmedienschutz geben, der Kinder und Jugendliche wie beim Film oder bei anderen Medien vor Gewaltszenen schützt. Ich bin jedoch gegen populistische Verbotsinitiativen. Denn was verboten ist, das reizt Jugendliche nur noch mehr. Es sollte doch vielmehr darum gehen, die existierenden Gesetze besser umzusetzen und nachzubessern. Davon macht weder das Jugendstrafrecht noch der Jugendmedienschutz eine Ausnahme.

    Anfang Mai haben wir deshalb im Deutschen Bundestag eine Änderung des Jugendschutzgesetzes beschlossen. Fortan müssen schwer jugendgefährdende Trägermedien besser und deutlicher gekennzeichnet werden, um Kinder und Jugendliche vor medialen Gewaltdarstellungen zu schützen. So wird es in Zukunft eine Mindestgröße für die Sichtbarkeit von Alterskennzeichnungen der Freiwilligen Selbstkontrolle geben. Das gilt auch und gerade für Computerspiele.

    In meinen Augen greift die Argumentation, dass der Medienkonsum allein an Jugendgewalt Schuld sei, eindeutig zu kurz. Damit macht man sich es viel zu einfach. Denn ein Computerspiel allein entscheidet nicht darüber, ob junge Menschen gewalttätig werden oder nicht. Es geht dabei doch um viel mehr: Um das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Schule, um Anerkennung und Förderung von Kindern und Jugendlichen, um ihre Perspektiven, um Schulleistungen, um die Verantwortung von Eltern und Pädagogen und eben auch um Fragen wie Medienkonsum und Jugendmedienschutz.

    Die amerikanische Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck hat einmal gesagt: „Die Jugend soll ihre eigenen Wege gehen, aber ein paar Wegweiser können nicht schaden“. Diese „Wegweiser“ müssen wir Kindern und Jugendlichen für einen erfolgreichen Schul- und Berufsweg und ein selbstbestimmtes Leben geben. Dann werden wir auch das Problem der Jugendgewalt lösen können. Die Antwort des Staates darf nicht nur Strafe, sondern muss bei jugendlichen Straftätern auch Resozialisierung und Erziehung sein. Nur dies hilft wirklich den Opfern der Tat und der Gesellschaft. Und nur so können kriminelle Karrieren frühzeitig beendet werden.

    Ich freue mich auf eine lebendige Diskussion!

    Vielen Dank!