Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

Archiv

Auf dieser Internetseite finden Sie Informationen über meine Arbeit als Bundestagsabgeordnete (1998 bis Oktober 2009)

Archives

On this website you find information about my work as member of parliament (1998 - Oct. 2009)

Curriculum Vitae english Curriculum Vitae français Curriculum Vitae spanish Curriculum Vitae russian Curriculum Vitae chinese

    17.02.2006

    Rede in Indien

    Thema: Karikaturenstreit


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    im Deutschen Bundestag hatten wir in der letzten Woche eine ausführliche Debatte über den Karikaturenstreit und die aktuelle Situation in den islamisch geprägten Ländern. Die vielen gewalttätigen Demonstrationen und die Entrüstung der muslimischen Gläubigen aber auch die Drohungen gegen westliche Zeitungen und Karikaturisten sind schockierend.

    Dieses aktuelle Beispiel zeigt deutlich, wie viel wir noch tun müssen, um zu einem Verständnis und zu einer Akzeptanz zwischen den verschiedenen Kulturen zu kommen. Manche Pessimisten meinen schon es gäbe keine Möglichkeit mehr, zu einem friedlichen Miteinander zu kommen. Aber ich glaube die gibt es!

    Denn die Trennlinie verläuft nicht zwischen Europa und den islamischen Staaten. Man kann sie nicht auf einer Landkarte einzeichnen. Stattdessen verläuft die Trennlinie zwischen den Menschen, die offen sind für den Dialog und denen, die ein Interesse an der Eskalation haben.

    Wir müssen uns dafür einsetzen, die Fanatiker zu stoppen und uns engagiert um den kulturellen Dialog bemühen. Bereits seit September 2001 haben wir im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ein Programm „Europäisch-Islamischer Kulturdialog“ aufgelegt, wo wir viele verschiedene Projekte in den islamisch geprägten Ländern durchführen.

    Neben einem wiedereröffneten Goethe-Institut in Kabul machen wir zum Beispiel Radioprojekte für Jugendliche, Stipendienprogramme für irakische Studierende, Projekte zur Förderung der Gleichstellung der Frau, die Aktion „10.000 Bücher für den Irak“ oder das Programm „Deutschunterricht für türkische Imame“.

    Damit freuen wir uns bereits über gute Resultate. Aber auch der Karikaturenstreit zeigt: Das reicht noch nicht!

    Wir können nur mit dem gegenseitigen Kennenlernen unserer verschiedenen Kulturen, unserer Normen und Werte, zu einer Verständigung kommen. Wir müssen uns also alle an einen Tisch setzen, an dem die verschiedenen Kulturen und Religionen die Dinge die ihnen wichtig sind darstellen können.

    Dabei ist unsere Grundlage immer klar. Die Menschenrechte gelten für alle. In ihnen sind auch Religionsfreiheit und Meinungs- und Pressefreiheit festgeschrieben. Selbst wenn diese auch Grenzen haben, so sind sie ein Bestandteil der Grundrechte, die für die ganze Welt gelten.

    Das müssen wir klar machen, ganz genauso wie wir deutlich machen müssen, dass Gewalt nicht zum Mittel werden darf.

    Meine sehr geehrten Damen und Herren,
    bei Ihnen in Indien sehe ich, dass der Dialog der Kulturen und Religionen weitgehend funktioniert ist. Ich finde es wunderbar, dass es gelingt mit 150 Millionen Moslems in Ihrem Land in einem meist guten Miteinander zu leben. Das zeigt auch beim aktuellen Karikaturenstreit die Kritik von Moslems, die aus Indien kommen. Diese wird zwar von einigen formuliert; dabei aber konstruktiv und nicht gewaltsam!

    Ich selbst bin Mitglied in der Jury des Alternativen Nobelpreises (Right Livelihood Award) in der wir im letzten Jahr zwei Inder auszeichnen durften, die sich ganz besonders für diesen Dialog einsetzen.

    Swami Agnivesh and Asghar Ali, Engineer from India have been awarded „...for their strong commitment and cooperation over many years to promote the values of co-existence, tolerance and understanding in India and between the countries of South Asia“.

    Sie und andere Preisträger der vergangenen Jahre zeigen uns wie das Engagement für den Dialog der Kulturen aussehen kann. Und das indische Volk lebt vor wie das harmonische Zusammenleben der Menschen in einem Land voller ganz unterschiedlicher Kulturen und Religionen aussehen kann.

    Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass wir uns auch selbst darüber klar werden, was unsere gemeinsamen kulturellen Werte sind. Erst wenn wir das selbst wissen, können wir diese Werte nach Außen auch gut vertreten. Solch einen Prozess hat es in Deutschland nach einer Zeit der Unmenschlichkeit und Finsternis im Zweiten Weltkrieg gegeben. Die Diskussion wurde aber wahrscheinlich gerade deswegen so intensiv geführt, weil sie unter so schwierigen Vorzeichen stand.

    Dieses historische Erbe war den Müttern und Vätern unserer Verfassung bewusst, und sie begründeten unseren neuen Staat auf dieser Einsicht. Diese Verfassung sollte die Basis eines friedlichen, respektvollen und offenen Zusammenlebens im Nachkriegsdeutschland ermöglichen. Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht am Beginn einer Reihe von Artikeln, den so genannten Grundrechten, die eine Grundstruktur unserer Identität beschreiben. Sie prägen unser kulturelles Selbstverständnis.

    Nicht das jeder Staat oder jede Nation sich einer derart komplexen und in Teilen auch überkorrekten – so sind wir Deutschen nun einmal – Verfassung geben muss. Die aktuelle Diskussion in Deutschland über die Reform eines Teils dieser Verfassung, nämlich der Beziehungen zwischen der Bundesebene und den einzelnen Teilstaaten (Föderalismusreform) - eine Struktur also, die es in ähnlicher Form auch in Indien gibt - zeigt die damit verbundenen Schwierigkeiten.

    Aber die in unserer Verfassung verinnerlichten Werte gewährleisten aus meiner Sicht die Möglichkeit des Dialogs und der Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen.

    Momentan engagiere ich mich ganz persönlich dafür, dass Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert wird. Selbst wenn in unserem System meist die einzelnen Bundesländer für Kultur verantwortlich sind, so ist die Förderung von Kultur doch ein zentraler Punkt, zu dem sich jeder Bürger Deutschlands bekennen sollte.

    Der zweite Schritt nach einer Diskussion um die eigenen Werte ist, sich über die gemeinsamen europäischen Werte zu unterhalten. Europa hat ein ganz starkes gemeinschaftliches Fundament. Die Grundlage liegt im Elysée-Vertrage. Dessen 40jähriges Bestehen haben wir 2003 gefeiert. Mit diesem Vertrag wurden Deutschland und Frankreich zu wichtigen Partnern und damit auch zu wichtigen Initiatoren der Europäischen Union.

    Seit langer Zeit läuft also der Prozess, in dem sich die verschiedenen Kulturen Europas über ihre kulturellen Werte und Einstellungen austauschen. Eine gemeinsame Verfassung stellt die Möglichkeit dar, gemeinsame Werte festzuschreiben und damit das Fundament zu festigen.

    Wie sie sicherlich wissen, ist die europäische Verfassung im letzten Jahr gescheitert. Doch möchte ich betonen, dass die Verfassung nicht gescheitert ist, weil über eine gemeinsame europäische Verfassung abgestimmt werden sollte.
    Es waren soziale und ökonomische Schreckgespenster, die wahrscheinlich noch nicht einmal ganz zu Unrecht auch von den Gegnern der Verfassung - übertrieben an die Wand gemalt wurden. Es waren also eher die Ängste vor einem missverstandenen Europa, die zu einer Ablehnung führten.

    Meiner Meinung nach wird mit einer europäischen Verfassung das Gegenteil möglich. Eine Verfassung als solche bietet ja gerade die Grundlagen und Anregungen, auf deren Fundament ein europäisches Zusammenwachsen möglich sein könnte.

    Man muss in diesem Zusammenhang auch den Entstehungsprozess der Verfassung berücksichtigen, der ein sehr langer war. Selbst wenn man den Beginn einer europäischen Einigung bereits vor über 2000 Jahren (Christliches Abendland, später der Westfälische Frieden) einordnen könnte, so ist der seit mehr als 50 Jahren verlaufende institutionelle Einigungsprozess vor allem aufgrund ideeller und eben auch kultureller Gemeinsamkeiten historisch so einzigartig.

    Europa stand ähnlich wie Deutschland 1945 vor einem Neuanfang, es war moralisch zerstört. Der gemeinsame, europäische Gedanke sollte ein Gegenentwurf zum zuvor so verheerend gescheiterten Nationalismus bilden. Das konstruktive Miteinander wurde zunächst in einer wirtschaftlichen Zweckgemeinschaft geschmiedet, auch um zunächst eine wirtschaftliche Abhängigkeit untereinander als ein wirksames Instrument zur Verhinderung von Krieg zu installieren.

    Doch schon von diesem Moment an war den geistigen Vätern Europas klar, dass Europa auf Dauer auch gemeinsame Werte teilen müsse, um sich entwickeln und weiter zusammen wachsen zu können. Der „spill over effect“, von der Zweckgemeinschaft hin zu einer Wertegemeinschaft war von Beginn an gewollt. Mit dem Maastrichter Vertrag 1993 brachten die Mitgliedstaaten ihren Willen zum Ausdruck, „den Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ und eine „immer engere Union der Völker zu schaffen“ (Präambel). Die Funktionalität in den ersten Jahren der Europäischen Union wich zunehmend einer auf eigenen Werten gegründeten Existenzberechtigung.

    Die EU-Verfassung wäre die Vervollkommnung dieses Prozesses. Sie birgt in sich die Befassung Europas mit sich selbst, mit den geistigen Werten und Ursprüngen, die es zusammenhält. Auch in der EU-Verfassung gibt es eine Grundrechtecharta, die ein Grundverständnis all der vielfältigen europäischen Kulturen ermöglicht. Denn das ist es, was Europa zusammenhält: „In Vielfalt geeint“ – der in der Verfassung festgehaltene Leitspruch der Europäischen Union.

    Was wir also in diesem europäischen Integrationsprozess verbessern müssen, ist der Dialog, der Diskurs und die Verständigung der Bürger Europas darüber, was sie miteinander verbindet.

    Das ist die Voraussetzung, um im Dialog mit ferneren Kulturen wie dem Islam die eigenen Werte deutlich machen zu können.

    Ich will Ihnen zum Abschluss dieser Rede, in der auch einige Punkte vorkamen, bei denen wir noch viel erreichen müssen, von einer sehr schönen persönlichen Erfahrung berichten.

    Vor zweieinhalb Jahren durfte ich bei der Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in Kabul dabei sein. Obwohl die sehr große Zerstörung in Afghanistan das Leben der Menschen bestimmte, war das Interesse gigantisch. Besonders bewegend war, wie ein bayrischer Zitterspieler zusammen mit afghanischen Musikern auf traditionellen Instrumenten musiziert hat. Und das, nachdem in der sechsjährigen Herrschaft der Taliban überhaupt keine Musik gemacht werden durfte!

    Auch wenn es manchmal ein schwerer Weg zur Verständigung zwischen den Kulturen ist, zeigen mir Erfahrungen wie diese immer wieder, dass es keineswegs aussichtslos ist. Wenn wir uns mit denen, die einen Dialog wollen, stark machen, dann können uns dabei auch keine Fanatiker oder Machthaber, die um ihre Macht fürchten, aufhalten.

    Vielen Dank!