Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    12.05.2007

    30jähriges Bestehen des Schüleraustausches Buchholz - Canteleu

    Rede am Gymnasium / an der Realschule Kattenberge, 11.00 - 13.00 Uhr


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Sehr geehrter Herr Direktor May,
    sehr geehrte Mitglieder des Partnerschaftsvereins Buchholz-Canteleu,
    liebe Eltern und Schüler,
    sehr verehrte Gäste,

    Ich habe die Einladung zur Jubiläumsfeier anlässlich des dreißigjährigen Bestehens des Schüleraustausches zwischen Buchholz und Canteleu sehr gerne angenommen und freue mich, sie so zahlreich begrüßen zu dürfen. Zunächst möchte ich jedoch dem Direktor des Hauses, Herrn Armin May, und dem Partnerschaftsverein Buchholz - Canteleu zum 30jährigen Bestehen des Schüleraustausches gratulieren. 30 Jahre Austausch bedeuten gleichzeitig 30 Jahre Begegnungen zwischen jungen Deutschen und Franzosen. Mit dem Schüleraustausch zwischen Buchholz und Canteleu wurde ab 1977 entscheidend dazu beigetragen, dass sich Schüler beider Länder kennen- und schätzen gelernt haben. Ein Meilenstein für die Begegnung von Menschen zwischen Deutschland und Frankreich war sicherlich der Elyseevertrag 1963, der die Städtepartnerschaften in großer Vielzahl angeregt hat.

    Die deutsch-französische Beziehungen haben in den vergangenen dreißig Jahren nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Ganz im Gegenteil. Sie sind in und für Europa bislang einzigartig. Ich bin mir sicher, dass ohne das deutsch-französische Paar die europäische Vereinigung nicht in dem großen Maße hätte vorangetrieben werden können, wie es heute der Fall ist. Allerdings hat sich das Wesen der deutsch-französischen Beziehungen in den vergangenen Jahren verändert. Für die einen scheint das gute Verhältnis zwischen unseren Partnerländern „normal“ zu sein, für andere sind die deutsch-französischen Beziehungen zu einer Banalität verkommen.

    Ich sehe das ganz und gar nicht so, denn um dort anzukommen, wo Deutschland und Frankreich heute sind, hat es viel Zeit und Ausdauer gebraucht. Und wie wir alle wissen, müssen Freundschaften gepflegt werden. Die deutsch-französische Freundschaft stellt in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar.

    Die deutsch-französischen Beziehungen sind kein statisches Gebilde. Sie sind ein politisches, wirtschaftliches, aber vor allem auch gesellschaftliches Instrument, das auf Herausforderungen reagieren muss. Ich möchte in meinem Beitrag kurz auf zwei thematische Schwerpunkte eingehen, mit denen wir uns meiner Meinung nach in Zukunft noch intensiver beschäftigen müssen:

    1. Wie können wir die junge Generation für Deutschland und Frankreich begeistern und welche Rolle spielt dabei der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften?
    2. Wie können wir Drittländer in den deutsch-französischen Dialog einbeziehen?

    Zunächst möchte ich auf das deutsch-französische Geschichtsbuch eingehen, das in meinen Augen ein wirkliches Ereignis ist. Links und rechts des Rheins lernen Schüler der letzten drei Klassen vor dem Abitur ab diesem Schuljahr aus einem inhaltlich identischen Geschichtsbuch. Es wird einen kaum hoch genug einzuschätzenden Beitrag dazu leisten, dass sich deutsche und französische Schüler über den Geschichtsunterricht noch besser kennen lernen.

    Vorurteile und Stereotype können auf diese Weise gar nicht erst entstehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Blick über den Tellerrand mit Hilfe des deutsch-französischen Geschichtsbuches mehr Interesse am Nachbarn hervorruft und gleichzeitig zur Stärkung einer europäischen Identität in der jungen Generation beiträgt. Es wäre wünschenswert, wenn sich in Zukunft auch andere europäische Partnerländer der Idee eines gemeinsamen Geschichtsbuches anschließen würden.

    Darüber hinaus möchte ich noch auf die politische Bedeutung des Buches hinweisen. Aufgrund der Tatsache, dass Schulbücher in Deutschland Länderangelegenheit sind, versteht es sich die bundesweite Verbreitung des Geschichtsbuches nicht von selbst. In der Frage, wie wir die junge Generation für Deutschland und Frankreich und nicht zuletzt auch Europa erreichen können, ist und bleibt die Förderung der Partnersprache das wichtigste Element. Eine europäische Einheitskultur wird und soll es nicht geben. Die sprachliche Vielfalt ist ein, wenn nicht sogar das Markenzeichen Europas. Aus diesem Grund müssen wir dafür sorgen, Jugendliche für das Thema Europa und insbesondere für die Sprache des Nachbarn zu sensibilisieren. Englisch reicht allein eben nicht aus, um die unterschiedlichen Kulturen in Europa zu verstehen.

    In den vergangenen Jahren traten Deutschland und Frankreich in diesem Bereich allerdings auf der Stelle. Die Zahl der Deutschlernenden Schüler in Frankreich hatte im Jahr 2000 einen historischen Tiefstand erreicht. In Deutschland stagnierte die Zahl der Französisch lernenden Schüler in der Sekundarstufe I an den Realschulen und auch an den Gymnasien. Doch dank jüngsten Maßnahmen zur Förderung der Partnersprache, wie zum Beispiel dem „DeutschMobil“ oder dem „FranceMobil“, konnte dieser Trend nicht nur gestoppt, sondern sogar umgekehrt werden. Zum Schulbeginn 2005 erhöhte sich die Zahl der Deutsch lernenden Schüler in Frankreich in der Sekundarstufe von 8% auf 15%. In Deutschland konnte die Zahl der Französischlernenden um knapp 5 % gesteigert werden. Französisch kann sich also erfreulicherweise als führende Fremdsprache in Deutschland nach Englisch behaupten.

    Die Schule ist und bleibt der Türöffner für das gegenseitige Kennen lernen. Das Interesse an der Sprache und Kultur des Nachbarn weckt man nicht nur durch einen lebendigen Unterricht. Es sind insbesondere die persönliche Erfahrungen, die man in und mit dem Partnerland sammelt. Ich bin davon überzeugt, dass der Schüleraustausch das Rückgrat für enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich bildet. Deshalb muss er nicht nur bewahrt, sondern auch in Zukunft gefördert werden.

    Bei dem Gedanken eines verstärkten Austausches zwischen Deutschen und Franzosen, soll jedoch die Lehrerschaft nicht vergessen werden. Ich plädiere dafür, dass in Zukunft mehr Lehrkräfte aus dem Nachbarland in der Ausbildung oder während ihrer beruflichen Laufbahn an den deutschen bzw. französischen Schulen unterrichten. Die Schüler kommen somit noch mehr in Kontakt mit der Kultur des Nachbarn, was Neugier weckt und zu einem höheren Interesse an Sprache und Kultur des Nachbarlandes führt.

    Unsere Zivilgesellschaften befinden sich in einem Umbruchsprozess. Um den sozialen Frieden in Deutschland, Frankreich und Europa zu garantieren, sollten die Austauschprogramme ihren Beitrag dazu leisten und sich dem Thema „Immigration und Integration“ intensiver widmen. Ich habe festgestellt, dass dieses Thema insbesondere junge Menschen sehr stark interessiert. Freunde und Bekannte mit Migrationshintergrund sind für die junge Generation selbstverständlich geworden. Gleichzeitig wird man sich jedoch bewusst, dass sich Freunde mit Migrationshintergrund mit Problemen konfrontiert sehen können, die man bislang weniger oder gar nicht kannte.

    Das Wiederaufflammen der Unruhen in der französischen Banlieue führt uns vor Augen, welche verherrenden Folgen gesellschaftliche Ausgrenzung, Ghettoisierung, Arbeitslosigkeit und das Fehlen von Perspektiven haben können. In Deutschland haben wir es mit ähnlichen Problemen zu tun: Die Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln ist zum Symbol für gescheiterte Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund geworden. Probleme in der Schule, alltägliche Gewalt, desolate Ausbildungs- und Berufsaussichten machen einen sozialen Aufstieg vieler junger Menschen unmöglich.

    Im Gegensatz zu den französischen Jugendlichen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration haben deutsche Migrantenkinder nicht selten mit herkunftsbedingten Sprachdefiziten zu kämpfen - eine Konsequenz, die sich sowohl aus der Geschichte und den unterschiedlichen Bildungssystemen in Deutschland und Frankreich ergibt. Um die sprachliche Kompetenz der Jugendlichen zu erhöhen, muss in Deutschland schon im frühen Kindesalter mit der Sprachausbildung begonnen werden. Aber die Sprache ist eben nicht alles, wie uns ja in Frankreich vor Augen geführt wird. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass den Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unseren Ländern mehrheitlich eine deutsche und/oder französische Identität fehlt.

    Wir dürfen die Jugendlichen nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen zeigen, dass sie gleichberechtigte und gleichwertige Teile unserer Gesellschaften sind. Ich bin der Meinung, dass Austauschprogramme und insbesondere der Schüleraustausch in diesem Zusammenhang eine ganz entscheidende Rolle spielen. Auch Initiativen des Deutsch-Französischen Jugendaustausches (DFJW) wie der Austausch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus beiden Ländern gehen in diese Richtung. Für viele Jugendliche aus den Pariser Vorstädten oder sozialen Brennpunkten in Deutschland kann ein Austausch der erste Kontakt mit dem Nachbarn sein und dort werden sie dann vielleicht zum ersten Mal als Deutscher oder Franzose und nicht als „Türke“ oder „jeune beur“ wahrgenommen.

    Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass neben dem gegenseitigen Kennenlernen auch der Spass und das Miteinander bei Austauschveranstaltungen nicht zu kurz kommen dürfen. Der Trend geht heute von bloßen Austauschbegegnungen hin zu themenorientierten Veranstaltungen mit Theater- oder Musikprojekten.

    Warum sollten wir nicht die Kreativität und den Einfallsreichtum der Jugendlichen nutzen, um die Sprache und die Kultur des Nachbarn besser kennenzulernen? Darüber hinaus hat diese Art von Austausch noch einen positiven Nebeneffekt: Sie stärken das Selbstwertgefühl der Jugendlichen und tragen dazu bei, dass die junge Generation eine deutsche und/oder französische, wenn nicht sogar eine europäische Identität und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Und das ist es doch, was wir in Europa wollen: ein Dialog zwischen den Kulturen. Wie uns die Geschichte zeigt, ist die Kommunikation das A und O für eine friedliche Kooperation im In- und Ausland. Deutschland und Frankreich nehmen dabei eine Vorreiterrolle ein, der sie auch in Zukunft gerecht werden sollten und deshalb verstärkt für einen interkulturellen Dialog innerhalb und außerhalb Europas werben sollten.

    Das ist auch das Thema meines 2. Aspektes: Wie können wir Drittländer in die deutsch-französische Kultur- und Bildungsarbeit einbeziehen?

    Ich bin der Ansicht, dass in einem Europa der 27 das deutsch-französische Tandem nicht exklusiv bleiben darf. Im Bereich der Kulturpolitik haben Deutschland und Frankreich eine Vorbildfunktion eingenommen, die gleichzeitig mit einer großen Verantwortung gegenüber Drittstaaten verbunden ist. Der Trend, andere europäische Partner in das deutsch-französische Boot zu holen, darf keine vorübergehende Erscheinung darstellen. Austauschbegegnungen spielen auch in diesem Zusammenhang eine ganz wesentliche Rolle.

    Erste Ansätze für gemeinsame Projekte in und mit Drittländern sind bereits vorhanden. So sind deutsche und französische Kulturinstitute z.B. in Glasgow und Ramallah gemeinsam untergebracht. Wir sollten dabei einen Faktor nicht aus den Augen verlieren: grenzenübergreifende Kulturprojekte sind kultur- und friedensstiftend, wie das deutsch-französische Kulturprojekt in Israel und Palästina, das vom Berlin-Brandenburgischen Institut für deutsch-französische Beziehungen (BBI) organisiert wird, zeigt. Darüber hinaus hat die enge deutsch-französische Zusammenarbeit auf internationaler Ebene dazu geführt, dass das Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO verabschiedet wurde. Nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ können Deutschland und Frankreich in Abstimmung mit anderen Partnerländern ihren Positionen in Zukunft noch mehr Nachdruck verleihen. Das deutsch-französische Paar darf sich nicht isolieren, sondern muss mit seinen europäischen Nachbarn noch enger zusammenarbeiten.

    Lassen Sie mich zum Abschluss nochmals festhalten: Europa braucht auch oder insbesondere im 21. Jahrhundert eine intensive und langfristig angelegte deutsch-französische Kultur- und Bildungspolitik. Die Bemühungen um die Integration von Drittländern und allen gesellschaftlichen Kräften in den deutsch-französischen Dialog muss verstärkt werden. Ich bin davon überzeugt, dass der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften dabei eine, wenn nicht sogar die wesentliche Rolle spielt. Der Schüleraustausch zwischen Buchholz und Canteleu ist ein Teil dieses Puzzles, aus dem sich die deutsch-französische und europäische Partnerschaft zusammensetzt. Direkte Begegnung ist immer der beste Motor. Ich hoffe, dass der Austausch auch in den kommenden 30 Jahren so erfolgreich fortgesetzt und ausgebaut wird und wünsche Ihnen dafür alles Gute.

    Vielen Dank