Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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Auf dieser Internetseite finden Sie Informationen über meine Arbeit als Bundestagsabgeordnete (1998 bis Oktober 2009)

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    23.09.1999

    Europa zwischen Globalisierung und Renationalisierung

    Dt.-Franz. Kolloquium, Schloss Genshagen bei Berlin, 23./24.9.1999


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    wir leben heute in einem Spannungsverhältnis von globalen Entwicklungen und wiedererwachten nationalen Bewegungen. Gerade in Europa wird dies immer wieder deutlich. Für Politik und Gesellschaft ergibt sich daraus die Frage, wie wir damit umgehen.

    Wir haben einerseits die schon weit fortgeschrittene europäische Integration, andererseits kämpfen wir immer noch und immer wieder gegen nationalistische Bestrebungen in Teilen Europas. Die Prämissen der internationalen Politik haben sich nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes derart geändert, dass wir gefordert sind, uns neue Gedanken über ein friedliches Zusammenleben der Kulturen und Gesellschaften zu machen.

    Europäische Kultur- und Aussenpolitik ist ein probates Mittel zur Konfliktbewältigung und und vor allem zur europäischen Identitätsbildung.

    Außenpolitik ist Friedenspolitik

    Im Selbstverständnis der Vereinbarungen der deutschen Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN ist deutsche Außenpolitik als Friedenspolitik konzipiert. Diese Auffassung bildet das Fundament auswärtiger Sicherheits-, Wirtschafts- und Kulturpolitik. Mir liegt viel daran, dies hier festzuhalten.

    Dabei werden die Grundlinien deutscher Außenpolitik weiterentwickelt. Die Einbindung europäischer Sicherheitspolitik in das transatlantische Bündnis, die gesamteuropäische Zusammenarbeit im Rahmen der OSZE, die Verantwortung für die Stabilität in Mittel-, Süd- und Osteuropa, die Förderung nachhaltiger Entwicklung in den Ländern des Südens und die Vertiefung, Erweiterung und Entwicklung der Europäischen Union zu einem Europa der Regionen sind die Hauptlinien der Außenpolitik der neuen Regierung.

    Wir haben in Deutschland eine lange und stabile Kontinuität, ja man kann fast schon von Tradition sprechen, wenn es darum geht, die Integration Europas zu fördern. Deutschlands Einbindung in die Europäische Union ist von zentraler Bedeutung; für Deutschland und für Europa. Aus deutscher, aber auch aus meiner persönlichen Sicht, kann es in Europa nur darum gehen, die Bemühungen zur Weiterentwicklung der EU zu einer Politischen Union voranzutreiben.

    Nur so lassen sich die Menschen in Europa einander näher bringen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir an einer bürgernahen Gestaltung der Union, einer EU der Bürger, noch hart arbeiten.

    Die deutsche Regierung hat sich vorgenommen, die Arbeitslosigkeit nicht nur im eigenen Land zu bekämpfen. Auch in Europa ist das ein Hauptanliegen der Politik. Das Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt. Die EU sollte bei ihren Anstrengungen davon ausgehen, eine Politik der ökologischen Modernisierung zu verfolgen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu gehören auch Anstrengungen bei Forschung und Entwicklung neuer Technologien und der Ausbau moderner Infrastrukturen für transeuropäische Netze. Europäische Umweltpolitik im Sinne eines grenzübergreifenden Umweltschutzes unter Anwendung des Integrationsprinzips gehört unbedingt dazu. Auch allgemeine sozial- und umweltpolitische Standards beim neuen Welthandelsabkommen müssen auf europäischer Ebene verhandelt und festgeschrieben werden.

    Alle diese Politikbereiche sind geeignet, die Menschen in ihrem Verständnis einander näher zu bringen und so dazu beizutragen, ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln. Denn die Probleme sind europäisch.

    Lassen Sie mich nun den Kern der (neuen) deutschen Europa- und Außenpolitik näher beleuchten.

    Bundesaußenminister Joschka Fischer hat im Frühjahr in Berlin aus Anlaß des Besuches von Generalsekretär Kofi Annan davon gesprochen, daß es in Zukunft darum gehen muß, neue Akzente in der auswärtigen Politik zu setzen. Er meinte damit die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Dialog und damit in die Entscheidungsprozesse der Außenpolitik. Die Probleme Europas, aber auch globale Fragen, können nicht mehr von Nationalstaaten allein gelöst werden. Im Zeitalter der viel beschworenen Globalisierung ist dies fast eine Binsenweisheit. Aber Globalisierung kann eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Globalisierung betrachtet werden. Wir haben es heute in Europa und anderswo vorwiegend mit einer Renationalisierung von Konflikten zu tun. Sie betrachte ich als die Gegenseite, vielleicht sogar als die Konsequenz der Globalisierung.

    Die vielfältigen Bemühungen zur Konfliktvermeidung und -lösung auf ziviler Ebene begrüsse ich ausdrücklich, möchte jedoch hinzufügen, dass die Ansätze weiter greifen müssen. Im Sinne der Europäischen Charta müssen wir uns verstärkt darum kümmern, altbewährte Instrumente der Verständigung und Begegnung wieder zu nutzen und sie auszubauen.

    Was spricht dagegen, engagierte Bürger noch stärker einzubinden, bessere, aber vor allem gezieltere Informationspolitik in den Mitgliedsländern der Union zu betreiben und Strukturen der Bürgerbeteiligung und des europäischen Politik- und Kulturdialogs zu fördern bzw. zu etablieren?

    Es gibt viele gute Ansätze, ich denke hierbei vor allem an die vielen Wissenschafts- und Studentenprogramme in Europa, sowie die Städtepartnerschaften - ein ganz wichtiges Projekt der Zusammenarbeit, das auch für Rußland später verändert werden kann. Diese Ansätze können wirkungsvolle Bausteine auf dem Weg zu einer europäischen Identität sein.

    Wir müssen also den Aspekt der Begegnung und des kulturellen Dialogs stärker im Bewusstsein der europäischen Bürger verankern. Nur durch das gegenseitige Kennenlernen der jeweils anderen kulturellen Vorstellungen und Gewohnheiten lässt sich auf Dauer ein gegenseitiges Verständnis aufbauen. Ich betrachte eine wirkliche europäische Kulturpolitik als ein dazu geeignetes Mittel . Ich rede dabei nicht von einer europäischen Kultur. Sie gibt es nicht und sie ist nicht wünschenswert. Aber gerade die Vielfalt der europäischen Völker, ihre Eigenarten und Sprachen, ihre Musik und Literatur, ihre Philosophie und ihr Kino (und nicht zuletzt ihre Speisen und Getränke!) sind der reiche Fundus, aus dem geschöpft werden kann. Hier liegen die Chancen, die Menschen für Europa zu gewinnen.

    Nur wenn es uns gelingt, das Interesse an der Erhaltung der europäischen kulturellen Vielfalt als europäisches Interesse zu definieren, können wir ein Netzwerk europäischer Kulturen und Regionen, die über Ländergrenzen hinweg gehen, schaffen. Ich glaube, daß ein solches Netzwerk das stärkste Band sein kann, um Europa zusammen zu halten. Es wäre auch ein gutes Mittel, den beabsichtigten Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene zu stärken und mit Leben zu erfüllen. Auch die Ernennung von Javier Solana zum Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann im Sinne von europäischer Kulturpolitik als präventiver Sicherheitspolitik genutzt werden. Ab dem 18. Oktober hat dieser Politikbereich der Europäischen Union Gesicht und Stimme und damit eine gute Chance, eine neue Kultur der Vernetzung und Kooperation auszuprobieren. Jedenfalls ist dies ein Schritt in die richtige Richtung. Wo anders, wenn nicht auf dem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, ließe sich in Europa zeigen, daß Austausch mit Vertretern der Zivilgesellschaft zu "kreativen Synergien" und zu einem konstruktiven Miteinander führen können. Der Integration Europas kann dies nur gut tun.

    Und deshalb müssen wir in diesen Bereichen auch aktiv werden:

    Die Probleme sind in ihren Ursachen und Wirkungen eng verbunden. Der Bundesaußenminister und wir als Außenpolitiker plädieren deshalb für einen neuartigen zusammenführenden Ansatz, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. Eine Kultur der Vernetzung und der Kooperation soll zum Markenzeichen der deutschen Außen- und damit auch Europapolitik werden Andersherum könnte man auch sagen: gerade weil die Integration Europas schon einen langen Weg gegangen hinter sich hat, liegt es an uns, neue Wege zu gehen bzw. sie wenigstens auszuprobieren. Denn vieles ist festgefahren und müßte gerade unter dem Gesichtspunkt der Bürgernähe überdacht werden. Ich erinnere nur an die Gründe für den Rücktritt der Kommission. Solche Ereignisse sind den Bürgern nicht zu erklären. Noch schlimmer ist, daß sich viele Menschen resigniert abwenden und von Europa nichts halten.

    Die Bundesrepublik hat noch während ihrer Präsidentschaft dafür Sorge getragen, daß die Neuerungen in der Gemeinsamen Außen- uns Sicherheitspolitik, wie sie im Amsterdamer Vertrag geregelt sind, auf den Weg gebracht wurden. Der Vertrag ist nun seit dem 1. Mai in Kraft.

    Die Bundesrepublik wird die neugeschaffenen Instrumente der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fördern und einzusetzen wissen. Auch auf diesem Gebiet wird sie in der Zukunft ein verläßlicher europäischer Partner sein.

    Der unter deutscher Ratspräsidentschaft eingeschlagene Weg, die weitergehende Integration der Union, sind notwendige Schritte der europäischen Einigung. Nicht nur Deutschland, auch die Europäische Union muß sich für den Weg ins 21. Jahrhundert bereithalten. Die unter den Vorzeichen des Aufbruchs und der Modernisierung angetretene deutsche Regierung wird sich, wie bisher, dafür einsetzen, daß wir eine echte Gemeinschaft in Europa bekommen. Niemand braucht dabei Angst vor einem zu großen oder einem zu starken Deutschland haben.

    Deutschland ist ein europäisches Land, kein Nationalstaat, der Alleingänge versucht.

    Lassen Sie mich mit einem abgewandelten Wort von unserem Bundespräsidenten Johannes Rau schließen:

    Man kann in Europa ruhig patriotisch gegenüber seinem Land eingestellt sein. Dies ist aber streng von Nationalismus zu trennen. Er hat in unserer Zeit nichts mehr verloren. In diesem Sinne, ich denke, das kann ich hier sagen, werden wir, die Parlamentarier, wird die deutsche Regierung und wird hoffentlich die deutsche Bevölkerung kontinuierlich an einem vereinten Europa arbeiten. Wir haben keine Alternative. Das Projekt Europa wird weiter voran gebracht. Allein kann in Zukunft kein Land Europas in einer globalisierten Welt bestehen, schon gar nicht wenn es es darum geht, in Europa wenigstens ansatzweise eine gemeinsame Identität zu stiften. Der hier aufgezeigte Gedanke der Bildung von kulturellen, sozialen und politischen Netzwerken unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft scheint mir der gangbarste Weg zu sein. Zumindest ist er der Diskussion wert.