Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    24.11.2006

    Gesprächsrunde „La politique européenne de la Grande Coalition“

    Maison Heinrich Heine, 24. 11. 2006, 18h30


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ich freue mich, an der Gesprächsrunde zur Politik der Großen Koalition vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft 2007 teilnehmen zu dürfen. Eine politische Debatte zu diesem Thema halte ich für dringend notwendig, da die Europäische Union in der öffentlichen Wahrnehmung der vergangenen Monate nicht gerade geglänzt hat.

    Insbesondere die jungen Menschen stehen Europa misstrauisch gegenüber. Dementsprechend haben 60 Prozent der 18 bis 24-jährigen Franzosen und Französinnen mit „NON“ votiert, wohingegen die über 55-Jährigen mehrheitlich für den Vertragsentwurf gestimmt haben.

    Ich möchte deshalb gleich auf ein Hauptziel hinweisen, das alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verfolgen sollten: Es muss uns gelingen, Europa positiv zu besetzen. Dazu müssen wir wissen, welches Europa sich die jungen Leute von heute wünschen und wie wir ein Europa mit bald 27 Mitgliedstaaten in Zukunft gestalten können.

    Ich bin der Meinung, dass die große Mehrheit der europäischen Bürger sich ein demokratisches und soziales Europa wünscht. Die Institutionen der Europäischen Union sind dringend reformbedürftig. Ein höheres Mitspracherecht der Bürger in den einzelnen EU-Mitgliedsländern würde Europa den Menschen näher bringen. Europa muss direkter und bürgernäher werden.

    Der europäische Erweiterungsprozess wird von vielen als Bedrohung wahrgenommen. Die Bürger fürchten um den Verlust sozialer Standards, haben Angst vor Arbeitslosigkeit und vor einem Europa, das sich auf eine reine Freihandelszone und auf eine Gesellschaft erweiterter Märkte beschränkt. Ich setze mich daher dafür ein, europaweit geltende soziale Mindeststandards einzuführen. Wir brauchen dringend ein europäisches Sozialmodell, das dem zunehmenden Lohn- und Sozialdumping entschieden Einhalt gebietet. Arbeitssicherheit sowie Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sollte auf europäischer Ebene größere Beachtung geschenkt werden. Arbeitnehmer sollten über betriebliche und unternehmerische Teilhabe- bzw. Mitbestimmungsrechte verfügen. Ich halte es aber auch für überaus wichtig, die Debatte über die Einführung existenzsichernder Mindestlöhne in Europa voranzutreiben. Wir können eine Debatte um die niedrigsten Löhne weltweit nicht gewinnen. Die Mindestlohn-Modelle in Frankreich und Großbritannien könnten hier als Maßstab dienen.

    Wir werden für Europa nur eine Zukunft haben, wenn wir verstärkt in Bildung und Forschung investieren. Derzeit investiert die Europäische Union 1,9% ihres BIP in öffentliche und private Forschungsvorhaben. In den USA sind es knapp 3% und Japan stellt 3% seines BIP für die Forschung zur Verfügung. Die „Lissabon-Strategie“ aus dem Jahre 2000 hat Mängel. Die reine Ausrichtung auf Bachelor- und Masterstudiengänge ist nicht hilfreich, da besinders unsere Ingenieursstudiengänge weltweit hohes Ansehen genießen.

    Wir können nur gewinnen, wenn Europa zusammensteht und mit eienr Stimme spricht. Dies gilt auch für den Bereich Kultur, dem eine zentrale Bedeutung im europäischen Integrationsprozess zukommt. Die kulturelle Vielfalt Europas ist ihre eigentliche Stärke. Es soll und darf keine europäische Einheitskultur geben. Dies wurde bereits im Entwurfstext für den Europäischen Verfassungsvertrag beschrieben. Wir müssen den Eigenwert jeder einzelnen Kultur anerkennen und Kultur als ein eigenständiges Thema auf der europäischen Ebene verstehen. Insbesondere die sprachliche Vielfalt Europas müssen wir respektieren, schützen und fördern, wenn das kulturelle Konzept von Europas „Einheit in Vielfalt“ als politische Leitlinie wirksam sein soll. Das EU-Budget für Kultur entspricht diesem Stellenwert zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht. Deshalb sollte die Bundesregierung während der Ratspräsidentschaft dafür werben, dass interkulturelle Verständigung und die internationale Präsentation der europäischen Kulturen auch finanziell stärker zum Tragen kommen. Besonders für den Dialog mit der Türkei sollten die EU-Staaten eine Priorität setzen.

    Einer der größten Erfolge des letzten Jahres für den Bereich Kultur ist die Verabschiedung der UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt. Deutschland muss dafür werben, dass alle Mitgliedsländer der Europäischen Union die Konvention so schnell wie möglich ratifizieren, damit sie in Kraft treten kann.

    Wir sollten jedoch noch einen Schritt weitergehen: Ich plädiere dafür, dass die Bundesregierung während der deutschen Ratspräsidentschaft die Erarbeitung einer „Kulturcharta für Europa“ voranbringen soll. Die Bedeutung der kulturellen Vielfalt für Europa würde auf diese Weise erstmals einen formellen Rahmen erhalten. Eine solche Kulturcharta könnte gerade auch in Hinblick auf zukünftige Abstimmungen über den europäischen Verfassungs- oder Vertragstext wichtig sein und ist deshalb aus meiner Sicht unglaublich wertvoll.

    Ich bin der Meinung, dass wir den interkulturellen Dialog größere Aufmerksamkeit schenken sollten. Deutschland trägt gerade aufgrund seiner Vergangenheit eine besondere Verantwortung, einen wachen, respektvollen und bewussten Dialog mit seinen europäischen Partnern zu führen.

    Eine zentrale Frage wird die Bürger Europas noch intensiver beschäftigen: Wie soll eine nachhaltige Energiepolitik Europas im 21. Jahrhundert aussehen? Angesichts zunehmender Erdöl- und Erdgasknappheit ist eine intensivere gemeinsame Energiepolitik der EU dringend notwendig. Und das kann nicht die Atomenergie leisten! Energieeinsparungen und effizientere Energienutzung sind möglich und unumgänglich. Europa muss im Bereich Energieversorgung umdenken und viel stärker auf die Energieeffizienz der erneuerbaren Energien setzen als es bisher der Fall war. Ich kenne die Vorbehalte gegenüber den so genannten alternativen Energiequellen. Gerade Frankreich hat in der Vergangenheit die Nutzung von Atomenergie extrem verteidigt. Wir dürfen uns aber nicht nur von wenigen Konzernen abhängig machen lassen. Es kann nicht sein, dass die Preise für Wasser und Strom über die Köpfe der Bürger hinweg bestimmt werden. Deutschland sollte die Chance der EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um in der europäischen Energiepolitik eine ökologische Wende einzuleiten.

    In diesem Zusammenhang möchte darauf hinweisen, dass im Jahre 2012 die Fristen für die Umsetzung der Bestimmungen des Kyoto-Protokolls ablaufen. Bereits heute muss die Zeit danach vorbereitet werden. Es gilt, Staaten wie die USA und China dazu zu bewegen, Verpflichtungen zur Schonung der Ressourcen und des Klimas mitzutragen. Wie wir auf der Klima-Konferenz von Nairobi gesehen haben, trifft man dabei auf große Widerstände. Ich bedaure sehr, dass sich die Teilnehmer des Klima-Gipfels in Nairobi nicht auf strengere Regeln im Klimaschutz einigen konnten. Wie dringend dieses Problem ist, sehen wir doch schon heute. Eine verbindliche Neuauflage des Kyoto-Protokolls halte ich für unumgänglich. Deshalb sollte die Große Koalition während der deutschen Ratspräsidentschaft auch verstärkt das Gespräch mit seinen außereuropäischen Partnern suchen. Gerade im Hinblick auf den G8-Gipfel im Sommer 2007 könnte Deutschland hier wichtige Impulse geben.

    Ich komme nun zu meinem letzten Aspekt: Europa muss zu einer wahren Friedensmacht in der Welt werden. Ich wünsche mir eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die der Europäischen Union das nötige Gewicht gibt, um Konflikte auf der ganzen Welt zu vermeiden und zu bewältigen. Allerdings sollte die Europäische Union dabei nicht den Schwerpunkt auf militärische Mittel setzen. Außenpolitik muss vor allem sozial, wirtschaftlich und kulturell gestaltet werden. Hier muss Europa ansetzen, um eine wirkliche und langfristige Friedenspolitik führen zu wollen. Deutschland sollte einen effektiven Beitrag dazu leisten, dass Europa in seiner Außen- und Sicherheitspolitik näher zusammenrückt. Das europäische Gewicht könnte somit einen größeren Beitrag zur friedlichen Lösung von Konflikten weltweit und zu einer sozial gerechteren Gestaltung der Globalisierung leisten als es bisher der Fall war.

    Zum Abschluss möchte ich nochmals betonen: Wir müssen am Ziel eines gemeinsamen europäischen Verfassungstextes festhalten. Ich plädiere dafür, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, auch wenn wir am Ende keine neue Verfassung haben. Mit Nizza allein kommen wir nicht mehr aus. Dazu müssen wir mehr als bisher die positiven Seiten betonen. Der Verhandlungsprozess muss wieder in Schwung gebracht werden. Frankreich, aber auch anderen europäische Staaten kommt dabei eine große Verantwortung zu. Dasselbe gilt für Deutschland, das während seiner EU-Ratspräsidentschaft den Start für neue Verhandlungen und für Reformen in den europäischen Institutionen machen muss.

    Vielen Dank.