Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    19.03.2008

    Artikel zu Kulturwirtschaft und kultureller Intelligenz


    Das Jahr 2007 war durch einen Boom an Debatten zum Thema Kultur- und Kreativwirtschaft geprägt. Es nahm im Kontext der Kulturaktivitäten während der Deutschen Europa-Ratspräsidentschaft breiten Raum ein, ebenso in der Arbeit der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland. Von der Evangelischen Akademie Loccum über Universitäten und Fachhochschulen bis hin zur Soziokultur haben sich wichtige Akteure und Institutionen im Feld der deutschen Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturpolitik dem Thema zugewandt. Vorerst ist kein Erlahmen des Interesses zu verzeichnen. Es gibt gute Gründe, daran zu arbeiten, dass das so bleibt.

    Das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt deutlich den engen Zusammenhang zwischen kulturwirtschaftlichem Pioniergeist und der Nutzung von Chancen für den erfolgreichen Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Ohne die mutige Entscheidung der damaligen Ministerpräsidenten Raue und Clement, Nordrhein-Westfalen zu einem Kultur- und Medienstandort zu entwickeln, wäre für NRW das Zechensterben nicht zu verkraften gewesen. Die nun – in Jahren – erreichte Verknüpfung von kulturgeprägter Standortentwicklung, modernen Kommunikationstechnologien, Public Private Partnerships, betriebswirtschaftlich vernünftig organisierten Kulturbetrieben und kultureller Bildung birgt eine Verheißung, der sich auch europäische Instanzen nicht entziehen konnten. Es ist kein Zufall, dass das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt 2010 sein wird.

    Die Fragen, die dennoch übrig bleiben, sind keine der professionellen Details.

    In der Veranstaltung der SPD-Fraktion zum Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages für Kultur in Deutschland stellte ein Teilnehmer fest, er vermisse in diesem Bericht Auskünfte darüber, wie Kultur und Kulturpolitik zur Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen können und wollen.

    Genau das ist der Anspruch, dem sich Kulturpolitiker auch im Blick auf Kulturwirtschaft zu stellen haben. Die bisherige Debatte über das Thema verbleibt mit Stichworten wie „Beschäftigungspotentiale“, „Wachstum“, „globale Märkte“, „Umwegerentabilität“ oder „Wertschöpfung“ und vor allem im Schatten der Lissabon-Strategie zu stark dem eng Ökonomischen verhaftet. Verständigungen über mögliche Beiträge der Kulturwirtschaft für die Lösung von Zukunftsaufgaben greifen zu langsam Raum. Das wird – zu Recht – oft und auch heftig kritisiert.

    Fehlstelle Nachhaltigkeit

    Inzwischen ist es eine Binsenweisheit, dass die Zukunft der Menschheit von ihrem vernünftigen Umgang mit Energie und Rohstoffen abhängt. Dabei geht es nicht darum, Wirtschaftswachstum zu minimieren, sondern es auf dem Weg der Schaffung von Rohstoffkreisläufen zu erhöhen. Das bedeutet eine tiefgreifende Änderung unserer Produktions- und Konsumtionsweisen. Abgesehen von den kulturellen Anstrengungen, die zur Herausbildung der entsprechenden Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster nötig sind, könnten mit einer intelligenten und intelligent geförderten Kulturwirtschaft sehr wichtige neue Entwicklungen auf den Weg gebracht bzw. beschleunigt werden.

    Moderne Produkte der Kulturwirtschaft wie Träger von digitalisiertem Bild und Ton zeigen geradezu prototypisch, worum es insgesamt geht: Immer neue Gerbrauchswerte unter Verwendung der immer gleichen Materialien herzustellen. Die anzustrebenden „geschlossenen Stoffkreisläufe“ mit ihren dazugehörigen Rücknahme und Wiederverwendungssystemen bedeuten nichts anderes, als dass nicht mehr vordergründig mit den Stoffen und Materialien gehandelt wird, sondern mit der in ihnen enthaltenen Intelligenz und Kreativität, die den Gebrauchswert ermöglichen. Daraus wird absehbar folgen, dass die Fragen von Urheberrechten weit über Kultur- und Kunstprodukte hinaus Relevanz erhalten. Allein hier besitzt die Kulturwirtschaft ein Innovationspotential, das bislang noch nicht einmal als Fragezeichen in der Debatte aufgetaucht ist.

    Eine Voraussetzung für den dringend nötigen Übergang zu geschlossenen Stoffkreisläufen besteht darin, dass Produkte von Anfang an so entworfen und entwickelt werden, dass man sie nach Gebrauch möglichst leicht wieder in ihre Einzelbestandteile zerlegen und diese der Wiederverwendung zuführen kann. In dieser Aufgabe ist eine der Grundfragen aller Kunst enthalten – die nach dem Verhältnis von Inhalt und Form. An der Schnittstelle von Ästhetik und Produktion bestimmt sie den ganzen Bereich des Designs. Bislang wird Design in der Debatte lediglich hin und wieder von Experten als einer unter vielen Bereichen der Kulturwirtschaft genannt. Die gesellschaftlich und strategisch kaum hoch genug zu bewertenden Innovationspotentiale, die von der Kulturwirtschaft ausgehend revolutionierende Impulse für umweltverträgliches Wirtschaftswachstum in der gesamten Industrie auslösen könnten, kommen nicht vor.

    Eine Mindestforderung an Kulturwirtschaft müsste eigentlich sein, dass im Blick auf Kulturprodukte als Ziel und Förderungsgrund ein im beschriebenen Sinn innovativer und intelligenter Umgang mit Materialien formuliert wird. Welche Möglichkeiten sich da auftun, soll an einem Beispiel illustriert werden:
    Bereits im Jahr 2002 wurde in New York mit „Cradle to Cradle“ ein völlig neuartiges Buch herausgegeben. Es besteht nicht aus Papier, sondern aus einem Kunststoff mit den Eigenschaften höchster Papierqualität. Die Druckfarbe hält Wärme, Kälte, Sand und Badewasser aus, lässt industriell dennoch ziemlich leicht abwaschen und anschließend wieder verwenden, ebenso, wie sich der Kunststoff beliebig oft wieder bedrucken lässt. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche revolutionär positiven Folgen für die Wälder der Erde und für das Klima zu Buche schlügen, wenn es gelänge, nicht nur Bücher, sondern Tageszeitungen, Werbematerialien usw. mit diesem neuen Verfahren herzustellen. Dazu müssten allerdings nicht nur in großem Umfang die neuen Technologien eingeführt, sondern auch nach dem Kreislaufprinzip funktionierende intelligente Vertriebssysteme entwickelt werden. In diesem Licht wird deutlich, welche Dimension sich hinter der Forderung der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland verbirgt, dass die Kultur die Berührungsängste gegenüber der Wirtschaft aufgibt. Sie darf sich dabei nur nicht im Dickicht betriebswirtschaftlicher Erwägungen, quantitativer Wachstumsparameter oder kurzsichtigen globalen Wettrennens um Märkte verlieren. Vielmehr muss sie sich zwingend der gesellschaftlichen Herausforderung des Übergangs zu innovativen Formen qualitativ neuartigen, umwelt- und gesundheitsverträglichen Wachstums annehmen und sie zu ihrem Anliegen machen.

    Menschen statt Konsumenten

    Es ist unbestreitbar wichtig, dass die Beschäftigungspotentiale der Kulturwirtschaft genutzt werden, dass Kulturproduzenten ebenso wie jeder andere von ihrer Arbeit leben können müssen. Obwohl beides gerade aus sozialdemokratischer Sicht absolut achtbare und erstrebenswerte Ziele sind, wird in den entsprechenden Diskussionen immer wieder ein grundsätzliches Unwohlsein spürbar. Auch dies könnte damit zusammen hängen, dass wir es über weite Strecken eher mit einer ökonomistisch eng geführten als mit einer gesellschaftsstrategischen Hinwendung zum Thema zu tun haben. Sehen wir uns zum Beispiel das Kapitel Kulturwirtschaft im Schlussbericht der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland an. Wir erhalten dort ein dankenswert profundes Bild von der Entwicklung und Struktur des Sektors. Menschen tauchen darin – dies gilt erst recht für den Kulturwirtschaftsbericht der Europäischen Union - in einem betriebswirtschaftlichen Verständnis als (kreative) Produzenten und als Konsumenten auf, gewissermaßen als vordere und hintere Anhängsel eines eigenlogischen wirtschaftlichen Prozesses. Es wird hier dem verbreiteten Irrtum, soziale Probleme ließen sich am besten strikt wirtschaftlich lösen, nicht widersprochen. Soziale Probleme sind aber gesellschaftliche Probleme, deren Lösungsansätze nur zum Teil in Wirtschaftsmechanismen liegen. Gleichzeitig werden die kulturwirtschaftlichen Effekte nicht bedacht, die aus der Lösung sozialer Probleme folgen könnten.

    Die Probleme der sozial unterprivilegierten Schichten sind nur zum geringsten Teil mit mangelndem Erwerb bzw. unzureichendem finanziellem Vermögen beschrieben. Der größere Teil des Problems liegt in der kulturellen Inkompetenz, die sich von Generation zu Generation vererbt. Kulturelle Inkompetenz bedeutet Unfähigkeit zu gesellschaftlicher Kommunikation. Wir wissen: Menschen, die von gesellschaftlicher Kommunikation abgeschnitten sind, reagieren darauf krank – entweder aggressiv mit physischer Gewalt oder depressiv, indem sie sich isolieren und vor Fernsehapparaten, Computerspielen oder Chat-Rooms einsam, dick, krank und traurig werden. Jugendstudien zeugen von immer dramatischeren Entwicklungen. Eine der entscheidenden gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit liegt deshalb in massiven Anstrengungen kultureller Bildung. Als Ergebnis kulturwirtschaftlicher Entwicklung auf eine zunehmende Anzahl von Konsumenten zu zielen, greift viel zu kurz. Das Problem ist nicht durch Kulturkonsum zu lösen, sondern durch kulturelle, darunter auch wesentlich künstlerische Aktivität. Es geht darum, dass an die Stelle der oft beschriebenen gesellschaftlich passiven Schichten mit bedrohlichem Gewaltpotential kompetente und integrierte Akteure treten. Das wäre dann gleichzeitig Chancengleichheit für alle.

    Die Schrittfolge verantwortungsvoller kulturpolitischer Überlegung müsste sein: In der Hauptsache geht es um kulturelle Bildung mit dem Ziel kommunikationstüchtiger, aktiv an den gesellschaftlichen Prozessen beteiligter Menschen. Gewünschte Begleitwirkung ist: Weit über die Belange der Kulturwirtschaft hinaus steigt das Kreativitätspotential der gesamten Gesellschaft. (Neue, innovative Technologien können leichter und schneller entwickelt und umgesetzt werden.) Eine Aufgabe von Kulturwirtschaft besteht darin, den nötigen Austausch, die nötige Zirkulation von Produkten und Materialien so effektiv wie möglich zu organisieren. Potenzierte Nachfrage nach Kulturerzeugnissen und Wirtschaftswachstum sind gewünschte Begleiterscheinungen des Prozesses.
    Die Elemente dieser Schrittfolge sind in der laufenden Debatte selbstverständlich vertreten. Sie scheinen nur manchmal auf dem Kopf zu stehen.

    Kulturwirtschaft und Globalisierung

    Immer wieder wird in der kulturwirtschaftlichen Debatte der Eindruck erweckt, es ginge bei dem so erstrebten Wachstum an zentraler Stelle um Exportstrategien und Positionen auf globalen Märkten. Beispielsweise die Essener Erklärung von 2007 „Wandel durch Kulturwirtschaft“ spricht bereits im zweiten Satz der Präambel vom härter gewordenen internationalen Wettbewerb und bindet in einem ihrer Leitsätze das globale Engagement der Kulturwirtschaft lediglich an den internationalen Markt. Gerade die Kulturwirtschaft sollte aber den Markt nicht als Ding an sich bzw. ausschlaggebendes Ziel sehen, sondern als Mittel zum Zweck.

    Es widerspricht den Wertvorstellungen der Sozialdemokratie – darüber gibt es Einvernehmen – Globalisierung als blindwirkende äußere Bedingung zu verstehen, wo es darauf ankommt, die Nase auf potentiellen Märkten vorn zu haben. Es geht nach unserem Verständnis vielmehr um einen Prozess, den es zu gestalten gilt. Die Hauptziele global verantwortlichen Handelns sehen wir bekanntlich in Frieden, der Lösung der Umweltfragen, in Entwicklungspolitik, in der Minimierung des weltweiten Sozialgefälles und dem Übergang zu einer gerechteren Weltwirtschaft.

    Für all dies brauchen wir dringend Kulturaustausch und kulturelle Kooperationen. Beides kann weder durch die öffentlichen Hände allein geschultert werden, noch findet der Kulturaustausch realiter hauptsächlich über den Weg öffentlicher Förderung statt. Gemessen an den weltweit zirkulierenden Filmen, Büchern, Hits, Konzerten usw. nimmt sich der öffentlich geförderte Kulturaustausch marginal aus. Wenn das so ist, dann muss unbedingt über die globale Verantwortung einer europäischen Kulturwirtschaft gesprochen werden, die jetzt auf den globalen Markt drängen will und dafür politische Unterstützung einfordert. Wozu – außer zu Wachstum an sich – soll der globale Markt der Kulturwirtschaft dienen?

    Fazit

    Die drei Aspekte der kulturellen Bildung, der Nachhaltigkeit und der Globalisierung als Gestaltungsauftrag sollten zeigen: Eine Kulturwirtschaft, die nicht begriffe, dass es im Kern um einen Wandel der Kultur des Wirtschaftens geht, wäre im direkten wie übertragenen Sinn selbst Energieverschwendung – oder, schlimmer noch: fehlgesteuerte Energie.
    In diesem Sinne sind wertvolle Anfänge einer gesellschaftlichen Debatte gemacht. Anfänge, die es intensiv zu entwickeln gilt.