Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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    06.02.2009

    Artikel zu Kultur und Finanzkrise

    Zeitung: Politik und Kultur


    Auf zu unseren wahren Wurzeln

    Zu welcher Gruppe gehören Sie? Sind Sie der Meinung, dass sobald die Finanz- und Wirtschaftskrise vorüber ist, alles wieder seinen gewohnten Gang geht? Oder haben Sie das Gefühl, dass es nach der Finanzkrise kein Zurück zu den alten Verhältnissen mehr gibt? Es spricht sehr viel für letzteres. Nach dieser Krise wird die Welt eine andere sein; ein Wandel viel tiefgreifender, als viele derzeit denken. An dieser Stelle ist Kultur gefragt und zwar sowohl in ihrer umfassenden Form einer Kultur der gesellschaftlichen Werte als auch in ihrer konkreten Form als Kultur geschaffen von Künstlerinnen und Künstlern verschiedenster Couleur. Doch der Reihe nach.

    Das Ende des Finanzsystems

    Zunächst ist die Situation klar. Seit Jahren gilt als einzige Währung im Finanzmarkt schnelle Rendite. Die Akteure scheinen die Frage, ob es Margen von über 20 Prozent ohne Schäden eigentlich geben kann, angesichts des vielen virtuellen Geldes schlicht verdrängt zu haben. Das rächt sich jetzt und zwar leider auch auf Kosten derer, die weder Aktien noch anderen Anteil an dem Desaster haben. Was tun? Sollte man einfach die Auswüchse zurückschneiden und die kritischen Bereiche des Marktes mit einigen Neuregelungen auf ein dann hoffentlich funktionierendes Maß begrenzen? Nein, das allein reicht nicht. Die Finanzwirtschaft ist in Folge eines unüberschaubar und unbeherrschbar gewordenen Leitmarktes kollabiert, dessen großem Einfluss sich seit Jahrzehnten kaum ein wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Bereich entziehen kann. Wie zentral sich die steigenden und fallenden Kurse der Börse in einer weltweiten Reaktionskette auf jeden Einzelnen von uns auswirken, zeigt sich nicht zuletzt durch die bereits wahrnehmbare Wirtschaftskrise auf drastische Art und Weise. Die vorherrschenden Argumentationsmuster, mit denen Wirtschaftsführung gerechtfertigt wurde, basieren auf der Annahme, dass kein Unternehmen hinter den Erwartungen der Börsianer zurückbleiben darf. Die Tragik dabei ist, dass gesunde aber langsamer als andere wachsende Unternehmen, tatsächlich Opfer feindlicher Übernahmen wurden und so die Abhängigkeit von immer weiter wachsenden Umsätzen und Gewinnen zu bestätigen schienen. Doch eben nur innerhalb eines Systems, dessen Grundlage die zutiefst absurde Vorstellung unendlich zu steigernder monetärer Gewinne bildet. Als um die Jahrtausendwende die Blase der New Economy zerplatze, ging es noch um virtuelle Werte. Jetzt aber verlieren die Menschen besonders in Amerika den neben Arbeit und eigenem Leben wahrscheinlich realsten und grundlegendsten Besitz: Ihre Häuser, ihr Zuhause.

    Der Verlust des gesellschaftlichen Fundaments

    In der biblischen Überlieferung war es noch ein goldenes Kalb, das die Menschen als Götzenbild für Reichtum und Macht anbeteten, während Moses mit den zehn Geboten die wahrhaft zentralen Werte der menschlichen Kultur auf dem Berg Sinai empfing. Heute steht statt des goldenen Kalbs der Aktienkurs im Fokus der Welt. Mit dem gleichen Effekt: die tatsächlichen Grundfeste und Wurzeln unserer Kultur und menschlichen Entwicklung treten in den Hintergrund, werden verkannt und vernachlässigt.

    Doch plötzlich sind wir alle von der Krise betroffen und es wird klar, dass Wirtschaft und Finanzen als falsche Wurzeln unsere Gesellschaft nicht tragen. Die Zeit, das zu tolerieren, ist vorbei. Der Glaube an diese trügerische Macht hat nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch unser individuelles Leben lange genug verformt.

    Erich Fromm warnte bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert davor, dass die herrschende ökonomische Sicht selbst unser Privates, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Partnerschaften so beeinflusst, dass wir uns selbst darin immer stärker nach wirtschaftlichen Rentabilitätsgesichtspunkten richten. Dabei ist beispielsweise die Frage, welchen Nutzen man aus einer bestimmten Leistung zieht, eine, die wertvolle Beziehungen zwischen Menschen eher zugrunde richtet, als dass sie sie festigt.

    Am wirtschaftlichen Götzenbild krankt nicht nur der Einzelne, sondern auch die Gesellschaft. Die bisherige blind-ökonomische Fixierung behindert nachhaltige, umwelt-, gesundheits- und gesellschaftsverträgliche Entwicklungen. Bislang wurden nur wenige solcher positiven Ideen angesichts der Sucht nach Quartalsbilanzen realisiert. Zu schwer ist es, gegen den Strom des schnellen Dollars und Euros, Zeit für gesunde, natürliche und dadurch selbstverständlich auch langsamere Entwicklungen zuzulassen.

    Ganz absurd wird die Anbetung des modernen goldenen Kalbs, wenn wir uns eingestehen, dass die Resultate und Produkte des wuchernden Wirtschaftsmarktes die Menschen nicht einmal glücklich machen können. Amerikanische Studien zeigen: Das individuelle Gefühl, glücklich zu leben, sinkt, je weiter der eigene Konsum ansteigt.

    Eine neue Wirtschaftskultur

    Dies ist kein antikapitalistisches Plädoyer, das den Einfamilien-Bauernhof als ideale Wirtschaftseinheit romantisiert. Der grundlegende Nutzen von Wirtschaft in ihrer sinnvollen Form sei unbestritten. Dabei ist das Streben nach natürlichen Gewinnen wichtig. Erst die Maßlosigkeit verkehrt Ökonomie zum Schlechten. Je deutlicher die Ausweglosigkeit des allgemeinen strikt monetären Denkens geworden ist, desto mehr haben sich glücklicherweise Menschen gefunden, die den Kraftaufwand nicht scheuen, Wege nach vorne zu weisen, Avantgarde zu sein. Genau hier wird der große Wert einer Kultur der gesellschaftlichen Werte deutlich und vor allem der langfristig weit größere Vorteil gegenüber einer Praxis der rein wirtschaftlich orientierten Wertmaßstäbe.

    Es gibt sie: Unternehmen, die mit einem gesellschaftlichen Kulturverständnis ethische Prinzipien zu Ihrem Leitbild erheben, die sich durch Standhaftigkeit gegenüber vermeintlichen Marktzwängen wie Quartalsbilanzen, Renditemaximierung oder unbegrenzten Verkauf von Anteilen auszeichnen. Es gibt sie: Hersteller, die zukunftsweisende Materialien produzieren, neue Produktionswege gehen oder Rohstoffe in technischen oder biologischen Kreisläufen nutzen. Die Geschäftsmentalität und damit der Bezug zu den Wurzeln des eigenen Handelns unterscheiden sich diametral von der Praxis insbesondere weltweiter Unternehmen. Sie sind nachhaltiger, verantwortlicher und krisensicherer – ein Vorbild für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Hier geht es nicht um den schnellen Gewinn, sondern um die Entwicklung umwelt-, gesundheits- und gesellschaftsverträglicher Produkte, die eine langfristige Zukunft haben. Immer mehr hört man von Unternehmen, die konsequent diesen Weg einschlagen. Erfreulicherweise hört man dagegen nie davon, dass genau diese Firmen durch Spekulation zunächst völlig überbewertet werden und dann plötzlich vor dem Konkurs gerettet werden müssen.

    Zuallererst muss es endlich darum gehen, gemeinschaftlich zu denken. Jedes Unternehmen für sich bedeutet, dass Konkurrenten gegeneinander antreten. Es fehlt die Perspektive, zu schauen, wie man sich ergänzen kann, wie sich beispielsweise die Produkt-Kreisläufe unterschiedlicher Firmen aufeinander abstimmen lassen.

    Es geht eben um eine Kultur der Gemeinschaft sowohl innerbetrieblich, insbesondere durch Mitarbeiterpartizipation, als auch gesamtwirtschaftlich. Das ist weitaus gewinnbringender als die Ausrichtung auf die maximale Rendite Einzelner. Dieser Gemeinschaftsgedanke, den Ökonomen als ‚Community Building’ bezeichnen, muss insgesamt zum Leitbild werden. Das wäre einer von mehreren notwendigen Schritten in eine Zukunft, in der nicht der schnöde Mammon vorgaukelt, kulturelle Grundlage zu sein. Denn stattdessen ist es Kultur, die auf selbstverständlichem Wege Ökonomie auf das reduziert was sie ist: ein Werkzeug von Menschen und kein Selbstzweck. Ich bin sicher, ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt auf der Basis einer gemeinsamen Kultur bewältigt diese große Aufgabe besser als jedes Rettungspaket, jeder Notfallplan und jedes Wirtschaftsprogramm, die verordnet werden, ohne, dass Gemeinschaft vorhanden ist. Es gilt nicht nur ökonomisch: Kultur hält eine Gesellschaft zusammen.

    Eine neue Gesellschaftskultur

    Genau hier zielt sich der allgemeine Kulturbegriff auf das Konkrete, auf das Kunstwerk. Denn an dem skizzierten gemeinschaftsbildenden Prozess haben Künstler einen fundamentalen Anteil. Sie sind ein wichtiger Ausdruck von Avantgarde, sie weisen Wege für die Gesellschaft. Allerdings ist schwer zu übersehen, dass es um genau diese zentrale Stellung von Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft derzeit nicht wirklich gut bestellt ist. Kultur als unsere wahre gesellschaftliche Wurzel ist vergessen und vernachlässigt; sie liegt außerhalb turbokapitalistischer Aktionsmuster. Die menschliche Gesellschaft basiert nicht auf einem Wirtschaft- und Finanzsystem. Sie ist dann stark, flexibel und human, wenn sie sich zu ihrer Kultur, deren Essenz im Kunstwerk liegt, und damit zu ihren Wurzeln bekennt, sie auf sich bezieht und praktiziert. Hier liegt unser Ziel. Wird es ein leichter Weg dorthin? Täuschen wir uns nicht. Wir brauchen mehr als die Politur dessen was momentan als Ausdruck von Kultur gemeinhin anerkannt ist. Den überwiegenden Teil unseres heutigen Kulturlebens widmen wir der Pflege unseres kulturellen Erbes. Diese wichtige Grundlage, die den Weg zurück aus der Krise überhaupt erst möglich macht, kann gleichzeitig nur so weit reichen, wie wir sie nicht nur ehrfürchtig in Stand halten, sondern sie tatsächlich auch leben lassen, indem wir uns durch sie zu eigenen Gedanken treiben lassen.

    Deshalb brauchen wir mehr Mut die zeitgenössische Kunst und Kultur voranzustellen. Trauen wir uns an das Neue, Unangepasste, Improvisierte und noch nicht bis zur Fäule Gereifte. Es geht dabei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir können nur die Lösungen aus Krisen heraus entwickeln, die der Mensch durch seine Kreativität selbst gestaltend hervorbringt. Es zählt das Eigene, das erst in seiner Vielfalt eine erstrebenswerte kulturelle Einheit bildet. Diese Kreativität als Lebensgrundlage macht menschliche Entwicklungen erst möglich. Doch wenn wir uns die Frage stellen, in welchen Bereichen des täglichen Lebens die wirklich freie Kreativität, Nonkonformität und Eigeninitiative zugelassen oder sogar gefordert werden, dann wird klar, wie weit wir uns von einer gesamtgesellschaftlichen, selbstbestimmten Kultur entfernt haben. Das beginnt schon in unserem Bildungssystem, innerhalb dessen Kreativität immer weniger Wert beigemessen wird. Unser Weg braucht eine neue Richtung mit dem Ziel, diese Ausprägung von Kultur wieder zu unseren Wurzeln zu erheben und gleichzeitig Wirtschaft auf ein praktikables Organisationsinstrument des Zusammenlebens zu reduzieren. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir es schaffen, dass die Bedeutung von Kunst und Kultur im engeren Sinne gesamtgesellschaftlich wieder stärker anerkannt wird, dann werden wir auch in der Lage sein, grundlegend eine Kultur der Werte und Normen wieder zu unserem gesellschaftlichen Leitbild zu machen.

    In seiner Gesamtheit ist dies kein Prozess, der ausschließlich politisch gesteuert und vorangebracht werden kann. Alle gesamtgesellschaftlichen Ebenen sind gefragt. Auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene können wir den Finanzsektor mit Rettungsschirmen zumindest kurz- und mittelfristig vor dem Kollaps bewahren. Dank der global umfassenden Auswirkungen der Krise, scheinen wichtige Staaten wie die USA und Großbritannien endlich an dem Punkt zu sein, an dem wir uns mit ihnen auf dringend notwendige, klare Regulierungen für den weltweiten Finanzmarkt werden einigen können. Mit den staatlichen Konjunkturmaßnahmen können außerdem die schlimmsten wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise abgefedert werden. Dabei wirken gerade die aktuellen Investitionsmaßnahmen für Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Feuerwehren, Bibliotheken und Kultureinrichtungen auch zukunftsfähig und verbrennen nicht in einem konjunkturellen Strohfeuer. Doch wenn wir uns bald wieder alten Geschäften zuwenden und damit den bisherigen Verhältnissen fügen, dann werden solche nationalen Maßnahmen die nächste Krise nur verzögern aber nicht aufhalten können. Wir stehen vor nicht weniger als einer Neuorganisation der internationalen Struktur wirtschaftlicher Beziehungen.

    Für eine langfristige und wirklich nachhaltige Lösung brauchen wir den beschriebenen neuen gesellschaftlichen Konsens. Das Bedürfnis nach solch einer Neuorientierung ist da. Ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika, Vorreiter der wirtschaftlichen Katastrophe, könnten nun plötzlich Vorreiter eines neuen Weges werden. Mit dem Erdrutschsieg von Barack Obama hat sich zunächst nur das Bedürfnis nach einer Identifikations- und Leitfigur, die wie er so eindeutig für die alten Werte in einer neuen Kultur steht, seinen Weg gebahnt. Doch nun liegt es an jedem einzelnen Amerikaner, inwieweit sie und er bereit sind, diesen Weg auch selbst zu gehen. Genauso liegt es an uns, diese Entwicklungen uns selbst zuzugestehen und sie aktiv und kreativ mit zu gestalten. Eine Entwicklung hin zu Kultur als unsere Wurzel, auf der Neues und Besseres wachsen kann und die treibend ist für gesellschaftliches Zusammenleben.