Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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Auf dieser Internetseite finden Sie Informationen über meine Arbeit als Bundestagsabgeordnete (1998 bis Oktober 2009)

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    18.03.2009

    Plenumsrede zur Aktuellen Stunde „Amoklauf“


    ++ es gilt das gesprochene Wort ++

    Liebe Kolleginnen und Kollegen,

    ich bin sehr froh darüber, dass sich in den letzten Tagen ebenso wie in der heutigen Debatte gezeigt hat, dass wir gegenüber Erfurt und Emsdetten in der politischen Kultur ein wichtiges Stück vorangekommen sind. Bisher sind überwiegend besonnene Kommentare und Vorschläge zu hören. Und das ist gut so. Eine solch schreckliche Tat ist weder monokausal noch einfach zu erklären. Dieses Mal gibt es politisch glücklicherweise nur einzelne Versuche, neue Medien allein als Sündenbock hinzustellen oder eben einzelne Maßnahmen als die seligmachenden zu beschreiben. Ich denke, durch plakative Verbotsforderungen werden uns Lösungen vorgegaukelt. Deswegen sind sie nicht die richtigen.

    Wir haben in den letzten Jahren viel dafür getan, dass wir in Deutschland inzwischen eines der wirksamsten Systeme für den Jugendmedienschutz in Europa haben. Selbstverständlich müssen wir politisch diskutieren, was unabhängig davon noch weiter zu tun ist. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob man Waffen wirklich zu Hause lagern muss oder ob sie nicht im Schützenverein gelagert werden sollten. Auch über den Vollzug der bestehenden Gesetze muss diskutiert werden.

    Es ist jetzt schon möglich, gewaltverherrlichende Computerspiele und Filme auch das ist wichtig; es geht nicht nur um Spiele, sondern auch um Filme zu verbieten. Bei der Altersfreigabe wird sehr genau darauf geachtet, welche Medien ab welchem Alter freigegeben werden können. In dieser Hinsicht sind andere Länder viel großzügiger. Auch das müsste stärker harmonisiert werden. Wir müssen uns auch mit der aufsuchenden Sozialarbeit befassen und prüfen, wo es Probleme gibt und ob ausreichend Personal vorhanden ist.

    Wichtig ist außerdem auch über dieses Thema wird viel zu wenig diskutiert die Frage nach der Medienkompetenz von Eltern und Lehrern. Wie werden sie aus- und fortgebildet? Wie können sie mit Medien umgehen? Angebote wie „Spielräume“ für Eltern, durch die sie sich ein Bild machen können, womit sich ihre Kinder beschäftigen, gibt es viel zu wenig. Einige Länder und die Kirchen haben etwas getan. Ich glaube, dass wir auch das weiter im Blick behalten müssen. Denn wir können nicht ignorieren, dass die Jugendlichen in der Onlinewelt leben. Wir als Eltern können nur versuchen, das nachzuvollziehen und zu verstehen und dann auch aktiv mit unseren Kindern zu diskutieren.

    Ein weiterer Punkt, über den wir auch schon in einer Anhörung im Ausschuss intensiv diskutiert haben, ist die Onlinesucht. Notwendig ist, dass sie als Krankheit anerkannt wird, um dadurch Hilfe zu ermöglichen, indem zum Beispiel die Krankenkassen eine Therapie bezahlen. Ich hoffe, dass wir damit weiterkommen. Ich persönlich finde auch den Vorschlag sinnvoll, Testkäufe von altersbeschränkten Medien oder von Alkohol zu verstärken. Denn nicht die Gesetze sind das Problem, sondern es ist immer wieder der Vollzug.

    Die Begriffe „Killerspiel“ oder „Killerfilm“ sind unsinnige Kategorisierungen. Nicht jeder wird abhängig, der etwas ausprobiert. Wie für das Rauchen gilt, dass man nicht automatisch nikotinabhängig wird, sondern damit auch wieder aufhören kann, führen auch Spiele nicht gleich in die Abhängigkeit.

    Aber nicht nur politisch droht der Reflex von schnellen und einfachen Erklärungen. Bei den Medien bleibt im Wettlauf um die erste Nachricht, die schnellste Erklärung und das beste Foto guter Journalismus leider oft auf der Strecke. In den letzten Tagen gab es erschreckende Beispiele dafür.

    Um an Sensationen und Bilder zu kommen, wurden Schüler dafür bezahlt, dass sie bestimmte Antworten geben oder Blumen niederlegen und sich dann weinend umarmen. Auch wurden Bilder des Täters und der Opfer aus persönlichen Internetprofilen übernommen und sogar von Gedenkstätten gestohlen. Im Internet zum Beispiel bei Twitter, dem hochgelobten neuen Medium waren es diesmal zuallererst Journalisten, die pietätlos über die Opfer spekulierten oder sich persönlich inszenierten. Ein Fernsehsender kaufte ein Handyvideo und vermarktete die letzten Minuten des Amokläufers. Ein weiteres Beispiel ist das Angebot eines Internetportals, die Tat sozusagen nachzuspielen.

    Das alles ist zutiefst makaber und hat mit Journalismus nichts zu tun. Es schadet den Betroffenen. Es schadet einer sachlichen Aufklärung. Es schadet auch dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Medien selbst. Auf diese Weise werden die Medien selbst zu Waffen. Seit dem Amoklauf gab es allein in Baden-Württemberg über 50 Trittbrettfahrer, die die Polizei mit Drohungen in Atem hielten. Ich habe in meinem Wahlkreis Ähnliches erfahren, als ich am Wochenende beim Polizeiball war. Allein in meinem Wahlkreis gab es in letzter Zeit drei Fälle von Trittbrettfahrern, die untersucht werden mussten. Das geht nicht an.

    Es ist schon seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt, dass eine übermäßige Berichterstattung die Täter zu Helden macht und Nachahmungstaten provoziert. Das ist auch der Grund, warum zum Beispiel bei der Deutschen Bahn Suizidversuche nicht mehr bekannt gegeben werden. Seitdem ist die Zahl der Nachahmer erheblich zurückgegangen. Das halte ich für richtig. Wir in Deutschland müssen uns gerade in solchen Fällen auf journalistische Ethik, Sorgfaltspflicht und Verantwortungsbewusstsein verlassen können. Jede Redaktion muss sich jetzt fragen, welche Konsequenzen sie für die eigene Berichterstattung ziehen muss.

    Der Pressekodex definiert schon jetzt die Grenzen der Recherche und verpflichtet zum Schutz der Persönlichkeitsrechte. Nach den eklatanten Verstößen der letzten Tage erwarte ich, dass sich Verlage und Sender an einen Tisch setzen und ihre ethischen Grundsätze weiterentwickeln und diese endlich verbindlich machen. Das ist dringend notwendig, damit Opfer wie die Bürger von Winnenden nach dem Amoklauf nicht durch die Art und Weise der Berichterstattung ein zweites Mal zum Opfer werden.

    Vielen Dank