Monika Griefahn, Mitglied des Deutschen Bundestages a. D.

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Auf dieser Internetseite finden Sie Informationen über meine Arbeit als Bundestagsabgeordnete (1998 bis Oktober 2009)

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    09.07.2006

    „Eine Reise von Deutschland nach Deutschland“

    Kurt Goldstein berichtet von seinem Leben unter den Nationalsozialisten


    Der alte Mann hat die Nummer 58866 auf den linken Arm tätowiert. Sein „Tatoo“ war schmerzhaft, harte Nadelstiche habe es in die Haut gehämmert. Es hat geblutet, der Arm war entzündet. Bekommen hat Kurt Goldstein sein Markenzeichen 1942 bei seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Der 91-Jährige ist „Deutscher, Jude und Kommunist“. Für die Nazis waren das 1933 zwei gute Gründe, Goldstein zu verfolgen. Welche Odyssee durch die Welt das für ihn zur Folge hatte, davon erzählte Goldstein in der vergangenen Woche bei zwei Schulbesuchen in Buchholz. Jeweils rund 100 Schüler am Albert-Einstein-Gymnasium und am Gymnasium am Katteberge lauschten gebannt seinem Leben. Ermöglicht hatte die Begegnungen der unabhängige Aktionskreis „Gesicht zeigen! im Landkreis Harburg“, der sich – 2001 von der SPD-Bundestagsabgeordneten Monika Griefahn ins Leben gerufen – gegen Rechtsextremismus einsetzt.

    „Solange das noch möglich ist, wollen wir Zeitzeugen einladen, die erzählen können was ihnen die Nazis angetan haben“, sagte Monika Griefahn. Das sei ein Weg, Jugendlichen zu zeigen, welch irrige Weltanschauung die Nazis – und Neonazis – verfolgten. Sie sei froh, bei den Lehrern der beiden Schulen Gehör dafür gefunden zu haben.

    Auch Kurt Goldstein, mit seinen 91 Jahren noch ein Mann, dem man fasziniert zuhört, pflichtete bei: „Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das nie wieder geschehen kann. Dazu gehört, dass man davon erzählt.“ Das fiel dem Berliner nicht immer leicht. Als er „Am Kattenberge“ von seinen Auschwitz-Jahren erzählt, in denen er unter Tage in einer Kohlegrube arbeiten musste, gerät er ins Stocken. Es ist die Stelle, an der er berichtet, wie Kameraden sich alle paar Wochen von SS-Bewachern begutachten lassen mussten – und aussortiert wurden, wenn sie zu schwach für die Grubenarbeit aussahen. Sie wurden auf Lastwagen geworfen und vergast. Eine kleine Pause in Goldsteins Erzählungen, der die Jahre überstanden hat, weil ihm ein polnischer Zwangsarbeiter täglich eine Extra-Portion Brot zusteckte. „Entschuldigen Sie bitte“, sagt er und trinkt einen Schluck aus seinem Wasserglas. „Es ist so schrecklich, wenn man das immer wieder erzählen muss. Die Kameraden wussten genau, wohin sie fahren, und sie haben sich nicht einmal mehr gewehrt.“

    In Auschwitz war er nur noch Häftling 58866 – die Nummer wurde gleich nach der Ankunft im Konzentrationslager in seinen Arm eintätowiert.

    Doch Goldstein, der 2005 das Bundesverdienstkreuz für sein unermüdliches Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus erhielt, bring seine Geschichte zu Ende. Angefangen in den 20er Jahren, als er sich dem kommunistischen Widerstand anschloss und als Schüler erstmals den Antisemitismus im Land gespürt hat. Über seine Flucht vor den Gendarmen, die ihn 1933 inhaftieren wollten. Da, so meint er, hat seine „Reise von Deutschland nach Deutschland“ begonnen. Denn egal wo er war, er habe „diesen Hitler“ loswerden wollen. Über Luxemburg, Palästina, Spanien und Frankreich führte sein Weg in den Jahren, in denen er nicht nach Deutschland zurückkonnte. 1942 wurde er von Frankreich nach Auschwitz ausgeliefert. „Dass ich hier jetzt vor Ihnen sitze, ist so ein Zufall“, bekennt er vor den Schülern.
    Denn in Auschwitz traf er einen Freund, der ihm half. Er überlebte 1945 im bitterkalten Winter den Todesmarsch nach Buchenwald, auf dem von 3000 Menschen 2500 starben. Das Lager hat sich am 11. April 1945 selbst befreit, und Kurt Goldstein hat an dem Tag mit den Mithäftlingen im Kreis getanzt, bis seine Kräfte versagten.

    Noch heute ist er ein aufmerksamer, lebensnaher Mann. Er liebt das Gespräch mit Jugendlichen, und auch die Schüler in Buchholz waren sehr interessiert, stellten Fragen nach seinen Gedanken, nach seiner Art, Widerstand geleistet zu haben, nach seiner Tätowierung. Selbst nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung suchten einige das Gespräch mit ihm. Allzuviel Gelegenheit blieb indes nicht für Fragen - ein bewegendes Leben zu erzählen, dauert eben seine Zeit.