Wie wichtig, dass wir uns das alle noch einmal klarmachen: Anlässlich des sechsten Jahrestages der Nuklearkatastrophe von Fukushima hat das Literaturfestival „Lesen ohne Atomstrom“ ein fast vergessenes Thema aufgegriffen: „Wegwerfarbeiter“ in Atomkraftwerken. Die Diskussionsrunde in Hamburg, die ich moderiert habe, war großartig besetzt: Der japanische Journalist Tomohiko Suzuki stellte sein Buch „Inside Fukushima“ vor, das nur wenige Tage zuvor auf Deutsch erschienen war. Und weil er dafür undercover in dem havarierten Atomkraftwerk gearbeitet hatte, war es mehr als naheliegend, den deutschen Enthüllungsautoren Günter Wallraff mit aufs Podium zu holen. Auch er hatte in den 1980er Jahren undercover die Strukturen der Personalrekrutierung für Atomkraftwerke aufgedeckt. Schauspielerin Anna Thalbach las mit beeindruckender Wirkung aus „Inside Fukushima“, und Sebastian Pflugbeil als Kenner der Atomszene und Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz sorgte für viele Details auch aus den nationalen und internationalen Aufsichtsbehörden. Wäre es nicht so ein bedrückendes Thema gewesen, wären die Erlebnisse der Undercover-Recherchen nicht so entsetzlich – und entsetzlich ähnlich –, die rund 500 Zuhörer und ich hätten beschwingt nach Hause gehen können.
Doch was wir hörten, war ernüchternd: Die Arbeiter seien einfache Menschen, die Geld bräuchten, beschreibt Suzuki seine Kollegen aus der Undercover-Zeit. Die Rekrutierung läge in den Händen der japanischen Mafia, der Yakuza. Ihre Angehörige seien anerkannte Personen und hervorragend in der Gesellschaft verankert.
Nichts anderes berichtet Günter Wallraff aus den 1980er Jahren in Deutschland. Die „Menschenhändler, die die Mitarbeiter für besonders gefährliche Aufgaben in Atomkraftwerken rekrutierten, seien bestens vernetzt und angesehen in der lokalen Politik gewesen. Sie hätten sogar Obdachlose rekrutiert, da die Höchst-Strahlendosis seinerzeit für die Arbeiter sehr schnell erreicht wurde und man jede Menge Leute benötigte. Nicht umsonst nennen Kritiker diese Menschen „Wegwerfarbeiter“.
Tatsächlich stützt auch Atomkenner und –kritiker Sebastian Pflugbeil diese Aussagen auf Basis zur Verfügung stehender Daten. Im regulären Betrieb von 17 deutschen AKW standen 2009 nach einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken den knapp 6000 Mitarbeitern des Eigenpersonals, die in Bezug auf die Strahlenbelastung überwacht werden, gut 24.000 überwachte Fremdarbeiter gegenüber. „Festangestellte Fachleute“, stelle Pflugbeil nüchtern fest, „sind zu teuer, um sie hohen Strahlendosen auszusetzen, sie sind dann zu schnell nicht mehr einsetzbar.“
Japans Umgang mit der Atomkraft ist für ihn befremdlich. Trotz der Erfahrung mit den zum Ende des Zweiten Weltkriegs abgeworfenen Atombomben in Hiroshima und Nagasaki schöben die Menschen das Thema gerne weg. An Hochschulen gebe es eine Furcht, sich mit dem Thema zu beschäftigen – Projekte, die die Gefahr plastisch machen, würden zurückgezogen.
Das bestätigt auch Suzuki: Die Folgen des Fukushima-Tsunamis seien nicht so dramatisch gewesen, wie zunächst befürchtet. So habe sich mehrheitlich der Eindruck durchgesetzt, der Unfall gefährde den Alltag nicht und man würde die Kernenergie schon in den Griff bekommen. Dennoch glaubt er, dass es irgendwann keine Atomkraftwerke auf der Welt mehr geben werde. Vielleicht trägt er mit seinem Buch ein kleines bisschen zu diesem Ziel bei.
Zur Veranstaltung „Lesen ohne Atomstrom“
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